Ghost
wesentlich stärker als beispielsweise Nächstenliebe. Ich war einfach neugierig.
Am abschreckendsten war das Wetter. Die Empfangsdame in meinem Hotel in Edgartown hatte mich gewarnt, dass Sturm angekündigt sei. Er war zwar noch nicht da, aber der Himmel ächzte schon unter seiner Last wie ein weicher grauer Sack, der jede Sekunde zerreißen konnte. Die Verlockung, dem Haus eine Zeit lang entfliehen zu können, war jedoch zu stark. Außerdem war mir der Gedanke unerträglich, mich in McAras Zimmer wieder vor den Computer setzen zu müssen. Ich holte mir Langs winddichte Jacke aus der Garderobe und ging dann mit dem Gärtner Duc vorn ums Haus herum zu den verwitterten würfelförmigen Holzbauten, die als Unterkünfte für das Personal und als Wirtschaftsgebäude dienten.
»Bestimmt ein Haufen harter Arbeit, um das alles in Schuss zu halten«, sagte ich.
Duc wandte den Blick nicht vom Boden ab.
»Erde schlecht. Wind schlecht. Regen schlecht. Salz schlecht. Scheiße.«
Darauf gab es nicht viel mehr zu sagen, und so hielt ich meinen Mund. Wir gingen an den ersten beiden Holzbauten vorbei. Vor dem dritten blieb Duc stehen und schloss die große Flügeltür auf. Er öffnete eine Seite, und wir gingen hinein. In zwei Ständern standen mindestens ein Dutzend Fahrräder, aber mein Blick blieb sofort an dem ockerfarbenen Ford Escape hängen, der die andere Hälfte der Garage einnahm. Ich hatte so viel über den Wagen gehört und ihn mir während meiner Überfahrt so oft vorgestellt, dass es ein ziemlicher Schock war, jetzt so unerwartet vor ihm zu stehen.
Duc bemerkte meinen Blick. »Möchten Sie leihen?«, fragte er.
»Nein, nein«, sagte ich schnell. Erst den Job eines Toten, dann sein Bett und jetzt auch noch eine Spazierfahrt in seinem Wagen – wo würde das wohl enden? »Ein Fahrrad reicht mir völlig. Tut mir sicher gut.«
Tiefe Zweifel standen im Gesicht des Gärtners, als er mich unsicher auf einem von Rhineharts teuren Mountainbikes davonschwanken sah. Augenscheinlich hielt er mich für verrückt, und vielleicht war ich es ja auch – Inselkoller, so nennt man das wohl, oder? Als ich den Special-Branch-Mann in seinem zwischen den Bäumen halb versteckten kleinen Holzhäuschen passierte, hob ich die Hand, was sich um ein Haar als fataler Fehler herausgestellt hätte, da der daraus resultierende Schlenker mich fast ins Unterholz befördert hätte. Irgendwie schaffte ich es, das Bike in die Mitte des Weges zurückzusteuern, und als ich mich erst einmal an die Gänge gewöhnt hatte (an meinem letzten Fahrrad gab es nur drei, wovon zwei nicht funktioniert hatten), bewegte ich mich auf dem harten Sand einigermaßen flott vorwärts.
Es herrschte eine gespenstische Stille im Wald, wie nach einem gigantischen Vulkanausbruch, der die Vegetation ausgebleicht und brüchig zurückgelassen und alle wilden Tiere vergiftet hatte. Gelegentlich hörte ich in der Ferne das hohle, dumpfe Gurren einer Ringeltaube, das die Stille nicht etwa durchbrach, sondern eher noch zusätzlich verstärkte. Ich strampelte den leicht ansteigenden Weg hinauf, bis ich schließlich auf die Landstraße gelangte.
Die Anti-Lang-Demonstration war auf einen einzigen Mann zusammengeschrumpft, der an der gegenüberliegenden Straßenseite stand. Anscheinend war er in den letzten paar Stunden fleißig gewesen, denn er hatte eine Art Installation aus einfachen Holzbrettern zusammengezimmert, an die er Hunderte von schrecklichen, aus Zeitschriften und Zeitungen herausgerissenen Fotos geheftet hatte: verbrannte Kinder, Leichen mit Folterspuren, geköpfte Geiseln, nach Bombenangriffen dem Erdboden gleichgemachte Wohngebiete. In diese Collage des Todes waren lange Namenslisten sowie einige handgeschriebene Gedichte und Briefe eingefügt. Zum Schutz gegen das Unwetter hatte der Mann Plastikplanen darübergespannt. Wie am Stand eines Wohltätigkeitsbasars einer Pfarrgemeinde war an der Spitze ein Transparent befestigt: DENN WIE IN ADAM ALLE STERBEN, SO WERDEN IN CHRISTUS ALLE LEBENDIG GEMACHT. Darunter befand sich ein windiger Unterstand aus Holzstützen und einer weiteren Plastikplane, in dem ein Stuhl und eine Art Kartentisch standen. Und an dem Tisch saß geduldig der Mann, den ich am Morgen kurz gesehen, aber nicht erkannt hatte. Jetzt erkannte ich ihn. Es war der militärische Typ aus der Hotelbar, der mich Wichser genannt hatte.
Unsicher blieb ich stehen und schaute nach links und rechts, ob die Straße frei war. Ich war mir bewusst, dass der nur etwa
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