Ghost
zuging, trug ein gut geschnittenes Sportsakko über einer zugeknöpften Strickjacke und einen karierten Wollschal um den Hals. Stammelnd begann ich, mich für die Störung zu entschuldigen, aber er fiel mir gleich ins Wort.
»Engländer, oder?«, sagte er und schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Stimmt.«
»Macht nichts. Sie können sich unterstellen. Unterstellen ist umsonst.«
Ich wusste nicht genug über Amerika, um anhand seines Akzents erkennen zu können, woher er stammte oder was er beruflich gemacht haben könnte. Aber ich vermutete, dass er ein Geschäftsmann im Ruhestand war und ziemlich betucht – was zwingend notwendig war, wenn man in einer Gegend lebte, wo eine Hütte mit Außenklo eine halbe Million Dollar kostete.
»Engländer, hä?«, sagte er noch einmal. Er musterte mich durch seine randlose Brille. »Haben Sie irgendwas mit diesem Lang zu schaffen?«
»In gewisser Weise«, sagte ich.
»Scheint ganz intelligent zu sein. Frag mich nur, warum er sich mit diesem verdammten Idioten im Weißen Haus eingelassen hat.«
»Tja, das fragen sich alle.«
»Kriegsverbrechen!«, sagte er und schüttelte den Kopf, wobei ich kurz die beiden fleischfarbenen Hörgeräte in seinen Ohren sah. »Dafür hätte man uns alle anklagen können! Wär vielleicht ganz gut gewesen. Ich weiß es nicht. Schätze, da muss ich mich auf ein höheres Gericht verlassen.« Er lachte traurig glucksend. »Dauert ja nicht mehr lange.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Ich war einfach froh, dass ich im Trockenen stand. Wir stützten uns auf das verwitterte Geländer und schauten hinaus in den Regen, während der Hund auf der Veranda herumtollte. Durch einen Spalt zwischen den Bäumen konnte ich das weite graue Meer erkennen – die weißen Kämme der auf das Land zurollenden Wellen bewegten sich unbarmherzig von oben nach unten, wie bei einer Bildstörung auf einem alten Schwarz-Weiß-Fernseher.
»Was führt Sie in diesen Teil der Insel?«, fragte der alte Mann.
Ich sah keinen Grund, ihm etwas vorzulügen.
»Ein Bekannter von mir ist da unten an den Strand gespült worden«, sagte ich. »Hab gedacht, ich schau mir mal die Stelle an. Um ihm meine Reverenz zu erweisen«, fügte ich hinzu, damit er nicht glaubte, ich sei pervers.
»Na, wenn das keine faule Sache war«, sagte er. »Sie meinen den Engländer vor ein paar Wochen, oder? Völlig ausgeschlossen, dass die Strömung den so weit nach Westen abgetrieben hat. Nicht um diese Jahreszeit.«
»Was?« Ich schaute ihm ins Gesicht. Trotz seines hohen Alters hatten die scharfen Züge und seine zupackende Art etwas Jugendliches. Das schüttere weiße Haar war streng nach hinten gekämmt. Er sah aus wie ein altehrwürdiger Pfadfinder.
»Ich kenne das Meer jetzt fast so lange, wie ich lebe. Mich selbst hat mal einer von dieser Scheißfähre zu schmeißen versucht, damals, als ich noch bei der Weltbank war, und eins können Sie mir glauben: Wenn er es geschafft hätte, dann wäre ich weiß Gott wo angeschwemmt worden, aber sicherlich nicht in Lambert’s Cove.«
Ich hörte ein Trommeln, allerdings wusste ich nicht, ob der auf das Schindeldach prasselnde Regen oder das Blut in meinen Ohren der Grund dafür war.
»Haben Sie das der Polizei gesagt?«
»Der Polizei? Junger Mann, in meinem Alter habe ich Besseres zu tun, als meine Zeit mit Polizisten zu verplempern. Egal, ich habe alles Annabeth erzählt. Sie hat mit der Polizei gesprochen.« Er sah mein verständnisloses Gesicht. »Annabeth Wurmbrand«, sagte er. »Jeder kennt Annabeth, die Witwe von Mars Wurmbrand. Ihr Haus ist das, das am nächsten zum Wasser steht.« Als ich wieder nicht reagierte, wurde er etwas unwirsch. »Sie hat der Polizei das von den Lichtern erzählt.«
»Lichtern?«
»Die Lichter am Strand, in der Nacht, als die Leiche angeschwemmt wurde. Gibt nichts hier in der Gegend, was Annabeth nicht sieht. Wenn Kay im Herbst Mohu verlassen hat, hat sie immer gesagt, wie froh sie ist, dass Annabeth im Winter ein Auge auf alles hat.«
»Was für Lichter waren das?«
»Von Taschenlampen, nehme ich an.«
»Warum hat man in den Medien nie was davon gehört?«
»In den Medien?« Er ließ wieder sein heiser glucksendes Lachen hören. »Annabeth hat in ihrem ganzen Leben mit keinem Reporter gesprochen. Außer vielleicht mit einem Redakteur von The World of Interiors. Hat zehn Jahre gedauert, bis sie Kay über den Weg getraut hat.«
Und dann fing er an, Geschichten zu erzählen von Kays großem
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