Ghostman: Thriller (German Edition)
Videokonferenztisch herum und besprachen, was zu tun war. Alle nickten mitfühlend, als ich beschrieb, was draußen in den Highlands passiert war. Alle waren sich darin einig, dass ich– wenn auch ein bisschen übereilt– das Richtige getan hatte, und wir ließen uns die Möglichkeit offen, bei unserem Plan zu bleiben. In sechs Tagen würden wir entweder unsere Vorbereitungen fortsetzen oder in separaten Jets irgendwo über dem Globus unterwegs sein und uns niemals wiedersehen.
Nach der Besprechung brauchte ich keine dreißig Sekunden, um meine Sachen einzusammeln und das Hotel zu verlassen: Meine Waffe lag unter dem Kopfkissen, meine Tasche stand gepackt neben der Tür. Ich warf sie mir über die Schulter und ging hinaus, ohne mich umzusehen. Angela nahm denselben Aufzug, und wir beide beobachteten den gleichmäßigen Countdown der Stockwerksanzeige. Ich war nervös, weil es uns nicht gelungen war, Kontakt zu Marcus aufzunehmen. Die Geschichte von dem Glas Muskatnusspulver ging mir nicht aus dem Kopf. Angela berührte meine Hand. Wir sahen einander an. Wenn der Aufzug unten angekommen wäre, würden wir wieder Fremde sein, aber in diesem Augenblick waren wir einfach wir selbst. Sie lächelte mich an und fragte: » Bedeutet dieser Bankjob dir wirklich so viel?«
» Er bedeutet mir alles«, sagte ich.
» Dann bin ich bei dir«, sagte sie. » Ich halte dir den Rücken frei, egal, was passiert.«
Danach brauchten wir nichts mehr zu sagen. Mehr als Schweigen war nicht nötig. Wir kamen in der Lobby an, und die Tür öffnete sich mit einem Glockenton.
Ich fuhr auf einem Umweg zu meiner Bude, mit einem Taxi die Jalan Ampang hinunter bis weit in die Stadt hinein, wo sie in die Jalan Gereja mündet. Meine Bude war in einem kleinen Mietshaus hinter einer Wäscherei mit einem handgemalten Schild. Als ich dort war, stellte ich die Tasche neben die Tür und schob die Waffe unter das Kissen, und dann setzte ich mich auf die Bettkante und starrte die Wand an, ungefähr eine Stunde lang, wie mir schien. Ich sah zu, wie das Sonnenlicht versickerte, bis es im Zimmer dunkel war. Ich lauschte dem Wasser, das sich auf dem Rand des Duschkopfs sammelte, bis es einen dicken Tropfen gebildet hatte und herunterfiel. Meine Bude war leer und schlicht und billig und ärmlich. Sie hatte alles, was ich wollte, und nichts, was ich nicht wollte. Ich schloss die Augen und überließ mich dem Schlaf.
Eine Bude ist mehr als nur ein Versteck, wissen Sie. Hier bringt man vor einem Raub seinen Kopf in Ordnung. Jeder hat da einen anderen Ansatz. Manche sind so gestresst, dass ihnen vorher schlecht wird. Sie husten und kotzen die ganze Nacht und schwören bei Gott, dass sie nie wieder ein Ding drehen, aber wenn sie am nächsten Morgen aufwachen, sind sie plötzlich so ruhig, wie man es nur sein kann. Andere versuchen sich in Raserei zu versetzen. Sie denken die ganze Nacht an ihre gewalttätigen Väter oder ihre untreuen Exfrauen oder etwas anderes, das sie sauer macht. Wenn der Job dann losgeht, sind sie so wütend, dass es ihnen egal ist, wenn sie jemanden verletzen müssen, um zu kriegen, was sie haben wollen. Manche schreiben ganze Notizhefte voll mit Listen von den Sachen, die sie sich kaufen werden, sodass die Habgier sie vorantreibt. Manche meditieren. Das Resultat ist immer das gleiche. Jeder findet einen Weg, um mit der Angst fertigzuwerden, damit er einsatzbereit ist. Die Bude ist nicht nur ein Rückzugsraum für den Körper, sondern auch für die Seele.
Im Laufe der sechs Tage übersetzte ich Ovids Ars Amatoria auf einem gelben Schreibblock. Als ich fertig war, las ich meine Übersetzung ein paarmal durch. Sie war holprig und unelegant. Ich hielt mein Feuerzeug an die Ecke des Blocks und sah zu, wie das Feuer die Worte verzehrte. Die glühende Asche ließ ich in den Papierkorb fallen. Meine Übersetzungen wurden nie so flüssig, wie ich es mir wünschte. Sosehr ich mich auch bemühte, ich brachte es nie so weit, dass die Worte sich anfühlten wie meine eigenen. Sie lebten nur im Augenblick des Übersetzens und starben, sobald ich sie zu Papier gebracht hatte.
Am sechsten Tag bekam ich eine SMS von Marcus. Ein kleiner Rückschlag, stand da. Haltet euch für Freitag bereit.
Ich weiß noch, dass ich erleichtert war. Es war mir unangenehm, was da draußen in den Genting Highlands passiert war, und als ich hörte, dass der Überfall trotzdem laufen solle, war mir wohler. Ich hatte das Richtige getan, sagte ich mir. Dazu stehe ich immer
Weitere Kostenlose Bücher