Ghostwalker 04. Fluch der Wahrheit
bewegte sich unruhig, während sie so tat, als hätte sie Kell nicht gehört. Stattdessen sah sie ihn lieber an. Der Wächter war groß und kräftig, die dunkelblonden Haare kurz geschnitten. Am bemerkenswertesten waren seine ungewöhnlichen grün-blauen Augen. Er war zwar zwei Jahre jünger, aber trotzdem ein durchaus geeigneter Kandidat für sie. Zu dumm, dass sie rein gar nichts fühlte, wenn er in ihrer Nähe war. Dennoch mochte sie ihn, und es tat ihr leid, dass er viel zu oft zwischen sie und ihren Bruder geriet, seit Finn Ratsführer war.
Mit einem tiefen Seufzer rieb Kell über sein Gesicht. »Komm schon, Keira, du weißt, dass du dich nicht ewig da oben verstecken kannst. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat Finn einen wichtigen Auftrag für dich.« Das Mitleid in seiner Stimme ärgerte sie.
Keira erhob sich und sprang vom Ast direkt vor seine Füße. Er bewegte sich keinen Millimeter. Verärgert, dass er sich nicht von ihr einschüchtern ließ, verwandelte sie sich. »Und wenn ich keine Lust habe?«
Kell sah sie ernst an. »Ich weiß nicht, was zwischen euch beiden ist, aber es wird Zeit, die Sache zu klären. Du bist eine gute Wächterin, eine sehr gute sogar, aber dieser Streit beeinflusst mittlerweile deine Leistung.«
Keira bleckte die Zähne. »Du weißt genauso gut wie ich, dass ich nur noch irgendwelche Babyaufgaben bekomme. Wenn ich endlich wieder meine Arbeit machen darf, werde ich sie auch gut erfüllen.«
Kell fuhr mit der Hand durch seine Haare. »Ich glaube nicht … «
Sie unterbrach ihn. »Ihr durftet in den Kampf ziehen, und ich musste hierbleiben. Das war nicht fair!«
»Das Lager musste geschützt sein. Es war eine wichtige Aufgabe.«
»Ja? Warum hast du dich dann nicht freiwillig dafür gemeldet? Und warum durfte Harmon mit, der noch nicht mal ein richtiger Wächter war?« Als sie Harmon erwähnte, zuckte Kell zusammen. Der junge Anwärter war von den Menschen getötet worden, und die Gruppe war immer noch nicht über seinen Verlust hinweg. Sie selbst auch nicht, aber das würde sie nie zugeben.
»Wärst du an seiner Stelle gewesen, wärst du jetzt tot. Das willst du sicher nicht.« Kells Stimme war leise.
»Vielleicht doch. Harmon wäre auf jeden Fall noch am Leben, wenn er hiergeblieben wäre.« Sie hob die Hand, als er etwas sagen wollte. »Aber darum geht es nicht, sondern darum, dass ich endlich wieder eine sinnvolle Aufgabe haben möchte.«
»Du kannst nicht wissen, was Finn von dir will. Da Torik in Montana ist, können wir eigentlich keinen der Wächter entbehren, also muss es ein wichtiger Auftrag sein. Außerdem sind Coyle und Marisa noch da, und es wirkte, als würde irgendetwas passieren.« Kell sah so aus, als wollte er ihren Arm berühren, doch er ließ die Hand wieder sinken. »Geh schon, dann hast du es umso schneller hinter dir.«
Keira lachte bitter auf. »Oder vor mir.« Zum Beispiel wieder auf den besten Freund ihres Bruders zu treffen, den sie geliebt hatte, seit sie ihnen als Kleinkind hinterherlaufen konnte. Sie hatte immer gedacht, dass Coyle eines Tages merken würde, wie gut sie zueinanderpassten, doch dann war diese Menschenfrau aufgetaucht und hatte ihm den Kopf verdreht. Als sie Marisa mit ihm zusammen gesehen hatte, war ihre letzte Hoffnung gestorben, und es war seitdem die Hölle für sie, ständig daran erinnert zu werden, was sie verloren – oder vielmehr niemals besessen – hatte. Und dann war Coyle mit Marisa an den Rand des Waldes gezogen, und sie konnte ihn nicht einmal mehr heimlich beobachten. Keira bemühte sich deshalb, immer außerhalb des Lagers unterwegs zu sein, wenn die beiden zu Besuch kamen.
Da sie nicht darum herumkommen und Finn nur noch wütender werden würde, wenn sie Zeit vergeudete, verwandelte sie sich und lief in Richtung des Lagers. Sie konnte Kell hinter sich spüren, wahrscheinlich hatte er den Auftrag bekommen, sicherzustellen, dass sie dem Befehl auch wirklich folgte. Verärgert lief sie schneller, obwohl sie wusste, dass sie Kell nicht abhängen würde. Aber wenigstens konnte sie so ein wenig den Frust abbauen, bevor sie auf Finn und die beiden Turteltauben traf. Schneller als ihr lieb war, stand sie vor Finns Tür und verwandelte sich. Bevor Keira anklopfen konnte, öffnete diese sich bereits.
Finn sah sie mit neutralem Gesichtsausdruck an. »Komm herein.«
Keira versuchte, ihren Schmerz zu verstecken. Das Verhältnis zu ihrem Bruder war merklich abgekühlt, seit er herausgefunden hatte, dass sie es
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