Gib dich hin (German Edition)
fühlte sich von ihm ziemlich genervt und hatte keine Lust, mit ihm zu reden, zumindest nicht jetzt, da sie ohnehin genug zu tun hatte. Folglich ging sie auch nicht an den Apparat. Sie war sich sicher, dass es nichts Dienstliches war, sonst wäre er direkt in ihr Büro gekommen. Und so, wie er sie in letzter Zeit ansah, gab es für sie kaum einen Zweifel, dass seine Anrufe ganz andere Gründe hatten.
Der nächste Anruf war allerdings die Überraschung des Tages. Maddy lud sie zum Abendessen ein und wollte für Nick und sie ein opulentes griechisches Mahl zaubern. Zunächst war Cynthia versucht, die Einladung abzulehnen, denn sie war weder auf Maddy noch auf Nick sonderlich gut zu sprechen. Sie ärgerte sich nach wie vor über das unverantwort liche Handeln ihres Bruders, und Maddy war ihr einfach nicht sonderlich sympathisch. Aber sie redete mit Engelszungen auf Cynthia ein, wollte Frieden schließen und ließ nicht locker, bis Cynthia doch nachgab. Vielleicht war dieser Abend tatsächlich keine schlechte Idee, man konnte sich endlich mal aussprechen, außerdem war es an der Zeit, die Schwägerin in spe genauer unter die Lupe zu nehmen. Möglicherweise war sie gar nicht so schlimm, wie sie dachte. Um des lieben Friedens willen sagte sie also zu und beeilte sich sogar, möglichst früh aus dem Büro zu kommen.
Gegen 16 Uhr fuhr sie nach Hause, um sich frisch zu machen und umzuziehen. Doch noch ehe sie aus dem Wagen gestiegen war, fiel ihr Blick auf das alte Museum, besser gesagt auf den Wasserspeier, der wie ein Wachhund auf dem Dach thronte.
Sie stieg aus, schloss die Autotür ab und steuerte auf das Museum zu, den Kopf hoch erhoben, bis sie direkt unter dem Steindämon, der auf sie herunterzublicken schien, stehen blieb. Ein Schauer jagte ihr beim Anblick dieser teuflischen Fratze über den Rücken. Jetzt war sie sich plötzlich sicher, das war das Wesen, das sie in ihrem Schlafzimmer gesehen hatte. Und selbst jetzt, obwohl es aus Stein war, wirkte es erschreckend lebendig.
Cynthia machte einen Schritt nach hinten, um ihre Perspektive zu ändern, als sie gegen einen Widerstand prallte und fast hinfiel.
»Oh, das tut mir leid, Entschuldigung«, murmelte ein aufgelöstes Stimmchen, das ihr merkwürdig vertraut war. Cynthia blickte die zierliche Person an, mit der sie versehentlich
zusammengestoßen war.
»Sie sind doch …«
»Ja, Klara Nibel.« Sie nickte heftig und sammelte einige Flyer ein, die ihr beim Zusammenprall aus den Händen gefallen waren.
»Wohnen Sie hier?«, erkundigte sich Cynthia.
Sie schüttelte den kleinen Kopf. Ihre braunen Haare flogen hin und her, fast rutschte ihr die überdimensionale Brille von der Nase.
»Ich arbeite im Museum, mache Führungen für Kinder.«
Sie hatte einen Flyer übersehen, und Cynthia hob ihn für sie auf. Auf der Vorderseite war ihr Wasserspeier abgebildet. Fasziniert starrte sie ihn an.
»Den können Sie gern behalten, wenn Sie mögen«, meinte Klara Nibel und tippte sachte aufs Papier. Cynthia nickte gedankenverloren, sie konnte sich von dem Anblick des Steindämons nicht losreißen. Er sah wirklich genauso aus wie das Wesen aus ihrem Traum. Und wenn es gar kein Traum gewesen war? Wenn Mandrake sich in dieses … Ding verwandelt hatte?
»Wie ich sehe, sind Sie auch von unserem kleinen Liebling fasziniert«, rissen sie Frau Nibels Worte plötzlich in die Wirklichkeit zurück.
»Was? Wie bitte?«
Die graue Maus blickte auf, hielt sich schützend eine Hand vor die Augen, um die winzigen Schneeflocken abzuwehren, und deutete zu dem Wasserspeier. »Der gibt uns nämlich Rätsel auf. Irgendwer hat ihn ohne Genehmigung dort oben angebracht. Der Direktor vermutet, dass er aus unserem Fundus stammt, aber wir finden keine Hinweise in unseren Unterlagen. Wahrscheinlich war er früher Teil des Gebäudes und wurde irgendwann abmontiert, ohne dass es jemand verzeichnete.«
Cynthia war der Wasserspeier auch erst vor ein paar Tagen zum ersten Mal aufgefallen, und sie wohnte schon seit einer ganzen Weile in der Koppenstraße.
»Wieso setzten die Leute früher überhaupt einen Steindämon auf das Dach eines Gerichtsgebäudes? Die Leute waren doch sehr gottesfürchtig, das passt irgendwie nicht zusammen.«
»Oh, so ist das keineswegs. Das ist kein Dämon, sondern ein Gargoyle.«
»Ein, was?« Dieses Wort hörte sie zum ersten Mal.
»Die meisten Leute machen da keinen Unterschied. Aber es gibt einen. Einen
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