Gib mir deine Seele
Lesseps wieder aus. Überrascht fand sie sich auf einem modernen und ziemlich hässlichen Platz wieder. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich orientiert hatte. Ihr Ziel schien ein acht- oder neunstöckiges Haus zu sein, das direkt am Schlund eines stark befahrenen Straßentunnels stand.
Als Pauline direkt davor den Kopf in den Nacken legte, um das Gebäude zu inspizieren, war sie ernüchtert. Welch ein Unterschied zu Constantins Wohnung. Aber vielleicht hatte sie mit etwas Glück von ihrem Apartment aus Meerblick.
Der Eingang wurde mit einem ähnlichen Codeschloss gesichert wie der Club, den sie besucht hatten. Sie tippte die Zahlenkombination ein, fuhr mit dem Lift in den obersten Stock und betrat wenig später ihr Apartment. Karg war es hier. Ein breites Bett beanspruchte viel Platz, in der Ecke stand ein Schreibtisch, darauf ein Fernseher. Die Küchenzeile sah nicht besonders schön aus, aber hinter den hellblauen Türen fand sich auf den ersten Blick alles, was man brauchte: Tassen, Teller, Schüsseln, einige Töpfe und Besteck. Ein kleines, fensterloses Bad, ein Einbauschrank und, immerhin, auch eine Klimaanlage, die im Moment allerdings noch nicht notwendig war, machten die Wohnung komplett.
Das Meer war nicht zu sehen, dafür befand sich die Wohnung auf der Rückseite des Hauses, sodass ihr der Lärm der Durchgangsstraße erspart bleiben würde.
Henrys Unterkunft sah sie sich als Nächstes an. Es war das Spiegelbild ihrer eigenen, nur die Einrichtung unterschied sich ein wenig. Anstelle des Bettes gab es ein ausklappbares Sofa, die Küche glänzte in sattem Rot, und statt des Schreibtischs stand hier ein Essplatz mit vier Stühlen. Das Beste aber entdeckte sie zum Schluss: die Verbindungstür.
Wahrscheinlich war sie nachträglich eingebaut worden, um auch einer Familie Unterkunft bieten zu können. Die beiden oberen Etagen, hatte man ihr gesagt, wurden ausschließlich an Theaterleute vermietet.
Trotzdem war Pauline enttäuscht. Ihre Kollegen wohnten bestimmt in einem schicken Hotel. Erst als sie sich an ihr eigenes Zuhause erinnerte, schämte sie sich für den Anflug von Neid. In London hauste sie wahrlich in schlechteren Verhältnissen.
Hat der Luxus, mit dem sich Constantin umgibt, mich schon verdorben?
Sie war keine Primadonna, und divenhaftes Benehmen fand sie peinlich. Gut, dass sie hier wieder mit beiden Beinen in der Realität angekommen war. Entschlossen, sich auf die gemeinsame Zeit mit Henry zu freuen, verließ Pauline das Gebäude und folgte den Hinweisen der Skizze, die sie erhalten hatte, um die Umgebung zu erkunden. Auf der nahegelegenen Carrer Gran de Gràcia gab es zahllose kleine Geschäfte. Unterwegs kaufte sie sich ein Sandwich, und während sie es auf einer Bank in der Sonne aß, schickte sie Constantin eine kurze SMS , um ihn über die Nachmittagstermine zu informieren.
Nach einem entspannten Spaziergang erreichte sie die Metro-Station Fontana, die sie vorhin im Zug passiert hatte.
Zurück im Theater, ging sie direkt zur Kostümabteilung. Die Gewandmeisterin wirkte streng und sprach kaum, aber sie nahm mit erstaunlicher Effizienz Paulines Maße.
»Die Taille ist ein Problem«, murmelte sie. Das war nichts Neues. Was Constantin so liebte, trieb Schneiderinnen regelmäßig in die Verzweiflung. »Das Kettchen müssen Sie natürlich abnehmen.«
»Nein.«
»Entschuldigung?« Zum ersten Mal sah ihr die Frau ins Gesicht.
»Wenn es jemanden stört, dann bin ich es«, sagte Pauline mit mehr Selbstbewusstsein, als sie in diesem Augenblick verspürte. Verbindlicher fügte sie hinzu: »Werden so meine Kostüme aussehen?« Dabei wies sie auf Entwürfe, die an der Wand hingen und ihr alles andere als kleidsam erschienen.
»Das da? Nein, das bleibt Ihnen erspart.« Die Gewandmeisterin lachte und sah auf einmal sehr hübsch aus. »Die Micaëla ist vielleicht ein Landei, aber die Kleine hat ihrem Don José ganz sicher etwas zu bieten.« Sie hängte sich das Maßband um den Hals und ging zu einem Schrank mit zahllosen flachen Schubladen. Eine davon zog sie heraus und kehrte mit zwei großen Papierbögen zurück. »Sehen Sie selbst.«
»Du lieber Himmel!« Pauline wünschte sich, sie hätte im Internet nach Fotos älterer Aufführungen gesucht. Dann wäre sie nun nicht so überrascht gewesen. Das Mädchen vom Lande unterschied sich nur durch das sanfte Blau ihres Kleides von den anderen Darstellerinnen, die mit Korsett und weiten Röcken ziemlich verwegen aussahen. Immerhin war der
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