Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gib mir deine Seele

Gib mir deine Seele

Titel: Gib mir deine Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
Vom Netzwerk:
neben ihr wohnen, erfuhr sie.
    »Sie können mir ihren Schlüssel gleich mitgeben. Wir sind befreundet, und ich werde sie ohnehin vom Flughafen abholen.«
    Wenn ich keine Zeit habe, wird Nicholas es tun , dachte sie und unterschrieb in Henrys Namen das Formular, das die sympathische Sekretärin ihr nach kurzem Zögern zuschob.
    Nachdem die Formalitäten erledigt waren, wurde Pauline zur Probebühne gebracht, wo sich gleich alle Beteiligten treffen würden. »Außer dem Orchester«, erklärte ihre Begleiterin, bevor sie sich verabschiedete.
    Mit einem nervösen Kribbeln im Bauch drückte Pauline die Türklinke hinunter und betrat einen großen Raum, dessen Parkett im Sonnenlicht glänzte, das durch die nur halb geschlossenen Jalousien hereinfiel.
    »Da ist ja unsere Micaëla!« Ein hochgewachsener, grauhaariger Mann kam ihr entgegen und begrüßte sie herzlich. »Wir sind so froh, dass Sie es einrichten konnten, meine Liebe. Hatten Sie eine gute Anreise?«
    Erst auf den zweiten Blick erkannte sie ihn als Paul Greenberg, den berühmten Dirigenten, den sie bisher nur auf Fotos oder aus der ungünstigen Perspektive vom obersten Rang eines Opernhauses gesehen hatte.
    Nach und nach trafen weitere Künstler ein. Die Carmen-Darstellerin war ihr auf Anhieb sympathisch, sie zwinkerte ihr aufmunternd zu. Von den Sängerinnen und Sängern des Chors wurde sie neugierig betrachtet. Natürlich wussten alle, dass dies Paulines erstes großes Engagement war. Doch wenn sich jemand Gedanken machte, ob sie in der Riege berühmter Stimmen bestehen können würde, dann ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken.
    Alexander Maisuradse, der Escamillo, den sie bereits in der Bar kennengelernt hatte, begrüßte sie so freundschaftlich, dass man annehmen konnte, sie kennten sich seit Jahren. Zum Schluss fehlte nur noch Jonathan Tailor, der die Rolle des Don José singen sollte. Auch er kannte diese Inszenierung noch nicht, alle anderen waren mit ihr vertraut.
    Maestro Greenberg überließ es seinem Assistenten Martin, den geplanten Ablauf der Probenarbeiten zu erläutern, und verabschiedete sich. Nach der Einführung löste sich das Treffen auf. Paulines Aufregung hatte sich gelegt.
    Endlich wieder im Theater! Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie diese besondere Atmosphäre vermisst hatte.
    »Mrs. Roth? Ich bin Jean-Marc. Monsieur Greenberg möchte, dass wir gemeinsam Ihre Arien durchgehen, um sich ein Bild …« Er unterbrach sich verlegen. Der schmale Mann war ihnen als Korrepetitor vorgestellt worden. Jean-Marc sprach Englisch mit schwerem Akzent und suchte nun nervös nach den richtigen Worten.
    Pauline schätzte ihn auf Mitte dreißig. Sein Haar war dünn, die Haut wirkte, als hätte sie schon lange keine Sonne mehr gesehen, und die gesamte Körperhaltung strahlte Unsicherheit aus. Das Anliegen war ihm offensichtlich unangenehm, und sie begriff, dass sie auf die Probe gestellt werden sollte. Wartete im Hintergrund etwa noch eine Kollegin, die die Micaëla notfalls an ihrer Stelle singen würde?
    Am liebsten hätte sie gefragt, warum man sie überhaupt engagiert hatte, wenn man ihr nichts zutraute. Aber ihr Ärger verschwand so schnell, wie er gekommen war. Jean-Marc konnte gewiss nichts dafür. Also schenkte sie ihm ein freundliches Lächeln und sagte: »Sehr gern. Ich kenne mich hier im Haus nicht aus. Wo wollen wir arbeiten?«
    »Ihr könnt hierbleiben«, mischte sich Martin, der Assistent, überraschend ein. Sie hatte nicht bemerkt, dass er noch da war.
    Er wollte also zuhören. Gut. Als sie sich umdrehte, sah sie Escamillo und Carmen miteinander flüstern. Sie machten ebenfalls keine Anstalten, die Probebühne zu verlassen.
    Pauline entschied, dass es das Beste war, sich keine Feinde zu machen, indem sie die beiden zum Gehen aufforderte. Also zwinkerte sie Jean-Marc zu und sagte leise auf Französisch zu ihm: »Ob wir mit noch mehr Publikum rechnen müssen?«
    Die Erleichterung in seinem Gesicht war beinahe komisch anzusehen. Womöglich lag es daran, dass sie mit ihm in seiner Muttersprache redete, vielleicht aber hatte er auch befürchtet, sie würde eine Szene machen.
    Glücklicherweise hatte sie sich zu Hause eingesungen, und es dauerte nicht lange, bis sie bereit war.
    »Beginnen wir mit der Arie › Je dis que rien ne m’ épouvante‹ aus dem dritten Akt.« Er gab ihr einen Ton vor und nickte.
    Sing, als wäre es das letzte Mal in deinem Leben!, hörte sie Elenas Stimme.
    Pauline öffnete den Mund, und alles um sie herum

Weitere Kostenlose Bücher