Gib mir deine Seele
lehnten an jeder freien Stelle – und damit an allen Wänden – Dutzende ungerahmter Gemälde. In der Mitte stand eine leere Staffelei neben einem riesigen Tisch, auf dem zahllose Zeichnungen ausgebreitet lagen. Neugierig trat sie näher, bis ihr der Atem stockte.
Das bin ich!
Anders als die Entdeckung in Davids Fotostudio machte ihr dieser Anblick keine Angst. Im Gegenteil, sie war fasziniert von der einzigartigen Begabung des Künstlers. Mit wenigen Strichen hatte er es verstanden, die unterschiedlichsten Gefühlsausdrücke festzuhalten und sie dabei immer schön und auf gewisse Weise begehrenswert erscheinen zu lassen – als wäre es das, was er in ihr sähe, ganz gleich, in welcher Stimmung sie sich befand.
»Wer hätte gedacht, dass Nicholas so talentiert ist?«, murmelte sie verwundert und setzte sich auf den einzigen Stuhl, um die zahllosen Zeichnungen in Ruhe betrachten zu können. Nach einer Weile stieß sie auf ein Skizzenblatt, auf dem er selbst abgebildet war. Sie stutzte und sah es sich genauer an. Es kam ihr nicht wie ein Selbstporträt vor, und dann hielt Pauline plötzlich eine ganze Serie von Zeichnungen in der Hand, die eindeutig während ihres Aufenthalts auf der schwedischen Insel entstanden waren. Sie erkannte ihr luftiges Sommerkleid wieder, den Strand, an dem sie und Constantin sich einander für immer versprochen hatten.
Ihr Herz raste, und sie musste sich an der Tischkante festhalten. Constantin war der Zeichner … und er hatte ihr nie etwas davon gesagt! Pauline sprang auf und lief zu den Bildern an den Wänden. Bald erkannte sie, dass darauf berühmte Künstler abgebildet waren. Die Dichter Shelley und Keats waren darunter, Chopin sowie die so tragisch verstorbene Ausnahmesopranistin María Malibran.
Als sie eines der Gemälde umdrehte, um es beiseitezustellen und an die dahinterliegenden heranzukommen, entdeckte sie auf der Rückseite einen Namen und ein Datum. Notiert in Constantins Handschrift. Sie war keine Kunstexpertin, und zuerst war es ihr nicht aufgefallen, aber die Bilder schienen aus unterschiedlichen Epochen zu stammen. Je weiter sie vorankam, desto staubiger und dunkler wurden sie.
Ungläubig schüttelte sie den Kopf, als sie eine Parallele zu den Lebensdaten der Porträtierten zu erkennen meinte. Die Zahlen entsprachen deren jeweiligem Todestag, jedenfalls war dies bei María Malibran so, von der sie wusste, dass sie mit achtundzwanzig Jahren am auf dem Rahmen notierten Tag gestorben war. Bei Chopin stimmte das Datum ebenfalls überein.
Was hat das zu bedeuten?
Verwirrt trat Pauline von den Bildern zurück. Dabei hob sie gedankenverloren einen Stofffetzen auf, der vom Tisch gefallen sein musste. Ihr Entsetzen kannte keine Grenzen, als sie erkannte, was auf dem Stück Leinwand abgebildet war: ihr Ring und ein Teil ihrer linken Hand. Als sie das Motiv genauer studierte, um ganz sicher zu sein, stieg ihr der Geruch von Firnis in die Nase. Das Bild musste neu gewesen sein.
Irgendjemand hatte es brutal zerstört.
Als er nach Hause kam, brannte kein Licht in ihrem Appartement. Zuerst dachte Constantin, Pauline säße bei den anderen in der Küche. Es bedeutete ihm viel, dass sie sich so gut mit der Familie Perraud verstand. Ihre Warmherzigkeit und eine natürliche Autorität sorgten dafür, dass sich alle auf dem Landgut in ihrer Nähe wohlfühlten und entspannt verhielten, ohne es jemals an Respekt fehlen zu lassen. Eine Kunst, das wusste Constantin, die nicht einmal unbedingt diejenigen beherrschten, die in einem großen Haushalt aufgewachsen waren.
Hungrig und müde vom langen Tag in Nîmes wollte er sich dennoch lieber frisch machen, bevor er in der Küche nach Nahrung für den hungrigen Magen und seine Seele suchte. Schon nach diesen wenigen Stunden vermisste er Pauline und sehnte sich nach ihrem Lächeln. Auf dem Weg ins Bad bemerkte er eine Bewegung.
»Pauline?«
Ein Streichholz flammte auf, gleich darauf brannten die Kerzen im großen Leuchter. »Ich habe auf dich gewartet.«
Der Klang ihrer Stimme erschreckte ihn. Was war passiert?
»Komm, setz dich. Ich muss mit dir reden.«
Weil er es für besser hielt, sofort herauszufinden, was geschehen war, ließ er sich wortlos auf den Stuhl gleiten, auf den sie zeigte.
Pauline mied seinen Blick und schob ein kleines dreieckiges Ding über den Tisch. »Kannst du mir das erklären?«
Zunächst konnte er in dem schlechten Licht nicht erkennen, was es war. Doch als er den Stoff berührte, verstand er sofort. Jetzt
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