Gib mir deine Seele
arbeiten.« Dass Elena Corliss den Unterricht sofort abbrechen würde, sollte es Pauline nicht gelingen, die Königin des Belcanto für sich zu begeistern, verschwieg er. So weit würde es ohnehin nicht kommen. Er hatte sich noch nie geirrt, wenn es darum ging, eine große Stimme oder ein anderes Talent zu erkennen.
Die Aufzugtüren glitten auseinander, und gemeinsam betraten sie den Dachgarten. Das Wetter war für die Jahreszeit und London ungewöhnlich schön. Eine helle Wintersonne spiegelte sich in den Scheiben der umliegenden Gebäude. Der Penthouse-Bereich war in zwei großzügige Wohnungen aufgeteilt. Seine lag im Westen, weil er das Morgenlicht liebte. Constantin gefiel es hier besser als in vielen anderen Städten, in denen er sich Suiten hielt.
Mit Ausnahme eines Rückzugsortes im Languedoc, von dem außer Nicholas niemand etwas wusste, besaß er nur wenige Immobilien. Manchmal überlegte er sogar, sich auch von Mas La Roseraie zu trennen, wenn das Verwalterehepaar in naher Zukunft in den Ruhestand ginge. Loyale Mitarbeiter zu finden wurde mehr und mehr zum Problem.
»Ich muss spätestens um sechs im Fullham Theatre sein.« Paulines Stimme riss ihn aus den Gedanken.
»Du hast ein Engagement?« Warum wusste er nichts davon?
»Was denkst du? Singen ist mein Beruf.«
Für ihn war es offensichtlich, dass Pauline darunter litt, nicht erfolgreich zu sein, also ließ er ihren zickigen Tonfall unkommentiert.
Constantin schloss die Tür der Dachwohnung auf. »Was singst du?«
Nun wirkte sie verlegen. »Nichts Besonderes. Nur das Sandmännchen in Hänsel und Gretel . Wir zeigen es als Kinderoper in der Vorweihnachtszeit. Henriette singt den Hänsel, und die Leute lieben sie.«
Es ehrte sie, den Erfolg ihrer Freundin so neidlos zu erwähnen. Wenn er sich richtig erinnerte, war ihre eigene Rolle praktisch nicht der Rede wert. Ohne näher darauf einzugehen, fragte er: »Was wirst du Elena vorsingen?«
»Viel Zeit, darüber nachzudenken, hatte ich ja nicht.« Vorwurfsvoll sah sie ihn an. »Aber wenn ich schon mal eine kostenlose Gesangsstunde haben kann, würde ich gern an meiner Minirolle arbeiten.« Eine zarte Röte schlich sich in ihr Gesicht. »Ich habe auch für die Gretel vorgesungen, aber sie wollten mich nicht. Was ich ja verstehen würde, wenn Mira, die die Rolle bekommen hat, eine gute Stimme besäße. Aber ehrlich gesagt singt sie wie aus einem Blecheimer heraus. Und ein Verhältnis mit irgendjemandem dort, das ihr hätte weiterhelfen können, hat sie auch nicht.«
Pauline klang desillusionierter, als er es erwartet hätte. »Und jetzt willst du an ihrer Partie feilen?«
»Schaden könnte es nicht. Aber nein, den Sandmann-Part möchte ich überarbeiten. Ganz gleich, was die anderen sagen, auch eine so kleine Rolle muss man ernst nehmen, finde ich.«
Darin stimmte er ihr zu. »Hier ist es.« Er begleitete sie hinein und bis zum Flügel, für den er sonst kaum Verwendung hatte. Er spielte gern, aber viel zu selten, um gut zu sein. »Ich habe noch zu tun.« Er deutete auf den Schreibtisch im Nebenraum. »Lass dich von mir nicht stören.«
Zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Keine Sorge, wir Sänger sind eitel. Publikum spornt uns an.«
»Na dann …« Die Versuchung, mit ihr zu flirten, wie er es gestern auf dem Weihnachtsmarkt getan hatte, war groß. Aber Constantin ahnte, wohin das führen würde. Um vor Elena zu bestehen, brauchte Pauline ihre volle Konzentration. Also wandte er sich ab und ging zum Schreibtisch hinüber, wobei er über die Schulter hinweg sagte: »Mach dir keine Sorgen, du wirst pünktlich in Fullham sein. Nicholas kann dich fahren.«
In Gedanken vermutlich bereits bei ihrer Arie, nickte Pauline nur, wickelte sich den Schal vom Hals und begann mit ihren Stimmübungen.
Exakt dreißig Minuten später klopfte es an der Tür. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es schon eine Weile ruhig gewesen war, und als er aufsah, konnte er Pauline nirgends entdecken.
»Pauline?«
»Hier.« Hastig sprang sie auf die Füße und zog die verknitterte Bluse glatt.
Es klopfte erneut, und so blieb ihm keine Gelegenheit, sich zu erkundigen, was sie auf dem Teppich hinter dem Flügel gesucht hatte. »Herein!«
Nicholas trat ein, in seiner Begleitung die gefürchtete Diva. Während Constantin ihr entgegenging, um sie angemessen zu begrüßen, streifte sein Blick Pauline. Eben noch hatte sie wie ein kleines Mädchen ausgesehen, das man beim Naschen aus dem
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