Gib mir deine Seele
Kinobesucher.
Geschickt fädelte sich Nicholas wieder in den fließenden Verkehr ein. »Was war das?«, fragte er, und Constantin hörte die Verunsicherung in seiner Stimme.
Er steckte die Sanduhr ein und zwang sich zu einem Lächeln. »Das, mein lieber Freund, war ein Bluff. Ein gut inszenierter zwar, aber dennoch nicht mehr als eine sorgfältig geplante Provokation. Sieht so aus, als hätten wir dieses Mal einen besonders interessanten Fall zu bearbeiten.«
»Wenn du das sagst.« Nicholas klang nicht überzeugt. »Wohin soll es gehen?«
»Ins Hotel. Bevor ich die Corliss anrufe, brauche ich einen Drink.«
Nicholas lachte. »Kann ich helfen?«
»Sei auf der Hut.«
»Kein Problem! Und aktuell?«
»Stell dich mit einer von Paulines Freundinnen gut, damit wir auf dem Laufenden bleiben. Welche wäre dir denn lieber?«
»Die blonde, kurzhaarige«, kam die spontane Antwort.
Obwohl ihm nicht danach war, musste Constantin lachen. »Henriette. Das habe ich mir gedacht. Dann viel Spaß!«
In seinem Penthouse, das er sich ganzjährig hielt, weil es über den Dächern von Soho thronte und vom Hotel zuverlässig versorgt wurde, zog er die Sanduhr aus der Tasche und stellte sie behutsam auf dem Schreibtisch ab. Das sollte also die ihm verbleibende Zeit sein? Im unteren Teil entdeckte er bereits einige winzige sandkornartige Gebilde. Ein Jahr. Ein mali ziöses Lächeln schlich sich in Constantins Mundwinkel. Irgend etwas sagte ihm, dass dies, wenn auch womöglich das letzte, so doch ganz sicher das beste Jahr seines bisherigen Lebens werden würde. Carpe diem. Verdammt! Bei allen Göttern und Dämonen, er würde jede Minute davon nutzen.
Nachdem er sich einen Whisky eingeschenkt hatte, griff er zum Telefon, wählte, wartete die Ansage ab und raunzte: »Morgen, fünfzehn Uhr im Soho Hotel.«
Weniger als eine Minute später klingelte es. Zufrieden nahm er einen Schluck, lehnte sich zurück und wartete, bis der Anrufbeantworter ansprang. »Du hässliche Ausgeburt der Sünde! Für wen hältst du dich, mich einfach so einzubestellen?« Die Beschimpfungen gingen noch eine Weile weiter, bis sogar die große Elena Corliss Luft holen musste.
Er nahm den Hörer ab. »Elena, auch dir einen guten Abend.«
»Constantin Dumont! Was fällt …«
»Morgen. Hier in meinem Apartment. Ich verspreche, dir wird gefallen, was du zu hören bekommst.«
»Ach wirklich?« Die Replik klang ätzend.
»Sie hat Potenzial. Und Elena …«
»Ja?«
»Du bist die Einzige, die den Schaden wiedergutmachen kann, den andere Gesangslehrer angerichtet haben.«
»Also meinetwegen. Eine Stunde.«
Wenn die Corliss eines hasste, dann waren es Leute, die Stimmen vorsätzlich oder aus Unvermögen ruinierten. Am Anfang ihrer Karriere hatte sie selbst unter solchen selbstgefälligen Gesangslehrern leiden müssen und sich geschworen, diese Scharlatane zur Strecke zu bringen.
»Und wenn die Kleine das Potenzial hat, das ich in ihr sehe, dann machst du eine Göttin aus ihr und wirst dafür fürstlich entlohnt …«
Einige Sekunden schwieg Elena Corliss, dann sagte sie: »Einverstanden. Aber Dumont, allmählich werde ich zu alt für diese Deals.«
»Du kokettierst«, sagte er, obwohl er wusste, dass sie recht hatte. »Es ist vielleicht das letzte Mal«, fügte er leise hinzu.
Erstaunlich milde lenkte sie ein. »Also gut. Meinetwegen. Ich habe morgen ohnehin eine Verabredung in Soho. Schickst du mir einen Wagen?«
»Schon geschehen. Bis morgen, schöne Elena.«
»Ach, Constantin. Ich habe doch einen Spiegel!« Sie kicherte dennoch wie ein junges Mädchen und legte auf.
Rasch sandte er noch eine Textnachricht an Pauline und zog sich anschließend in sein Schlafzimmer zurück. Das winzige Häufchen Zeitstaub in der Sanduhr schien gewachsen zu sein.
Am folgenden Tag ließ es sich Constantin nicht nehmen, Pauline persönlich am Empfang abzuholen, um mit ihr in die oberste Etage des Hotels zu fahren, zu der man nur mit einem elektronischen Spezialschlüssel Zugang erhielt. Ihre gestrige Antwort-SMS hatte nur aus einem Wort bestanden, und er nahm an, dass dies ihre Form von Protest war, weil sie sich ungern irgendwohin einbestellen ließ.
Du wirst noch viel lernen müssen, ma petite, dachte er, als sie neben ihm im Aufzug stand und den Notschalter mit einer Hingabe betrachtete, die den unbekannten Designer des guten Stücks stolz gemacht hätte.
»Elena kommt um vier«, sagte er. »Du kannst dich also in Ruhe einsingen. Ihr werdet etwa eine Stunde zusammen
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