Gib mir deine Seele
gehört hatte.
Langsam drehte sie sich um und sah ihn mit diesen unglaublich seelenvollen Augen an. »Die Corliss! Ich kann es immer noch nicht glauben. Zu denken, dass ich beinahe nicht gekommen wäre!« Pauline schlang die Arme um seinen Nacken und küsste ihn.
Zuerst hielt er ganz still, doch dann erwiderte er den Kuss und verlor sich in der weichen Süße ihres Mundes. Als er sie näher an sich zog, folgte sie ihm so willig, dass es ihn an den Rand seiner Selbstbeherrschung brachte. Entschlossen griff er nach ihren Handgelenken und löste sich aus der Umarmung. »Du kommst zu spät!«
Ihr Gesicht war rosig und die Lippen leicht geschwollen von seinen Küssen. Es fiel ihm schwer, sich von dem Anblick loszureißen, wie sie sich reuevoll, aber auch ein wenig kokett, als wäre sie sich ihrer Wirkung auf ihn sehr bewusst, die Fingerspitzen auf den Mund legte.
Pauline sah auf die Uhr. »So spät! Jetzt muss ich wohl wirklich auf dein Angebot zurückgreifen und Nicholas bitten, mich nach Fullham zu fahren.«
»Kein Problem.« Galant half er Pauline in die abgewetzte Lederjacke, reichte ihr Handtasche und Schal und rief nach seinem Assistenten.
Was der Blick bedeutete, den sie ihm unter halb geschlossenen Lidern zuwarf, während er sie hinausbegleitete, wusste er genau. Pauline wollte wissen, ob sie sich wiedersehen würden.
»Toi, toi, toi!« Ohne eine Miene zu verziehen, wünschte er ihr einen erfolgreichen Abend.
Das Spiel hatte begonnen.
Zwei Tage später schlug Constantin die Zeitung auf – das Lesen der Feuilletons unterschiedlicher Blätter gehörte zu seiner Morgenroutine wie Joggen oder Work-out –, da stockte ihm für die Dauer eines Wimpernschlags der Atem.
Steven Gehry, einer der anerkanntesten Kritiker des Musiktheaters, berichtete launig von seinem Besuch einer Low-Budget-Produktion im Fullham Theatre.
Wie er gelitten habe, als seine Frau ihn mit den Zwillingen in Humperdincks Oper Hänsel und Gretel schickte, um sich Freiraum für die Geburtstagsvorbereitungen der Kinder zu schaffen.
»Hätte sie mir nicht verboten, die Mädchen stattdessen ins Pub mitzunehmen«, schrieb er, »wäre ich dem Elend spätestens in der Pause entflohen.«
Zwar gestand er der tüchtigen jungen Truppe guten Willen zu. »Das Publikum unterhielt sich bestens, während ich versuchte, in den rudernden Bewegungen des Dirigenten einen Sinn zu erkennen. Zweifellos besaß er bildschönes Haar, aber das war auch schon alles, was für ihn sprach.«
Im Orchester, so fuhr er fort, habe jeder einzelne Musiker so engagiert gespielt, als handele es sich um eine Truppe von Solisten, deren einziges Ziel es gewesen sei, die allenfalls als »nett« zu bezeichnenden Stimmen der Darsteller zu übertönen.
»Multikulturell« sei die ärmliche Besenbinderfamilie gewesen, ein trauriges Abbild Europas. »Gretel war ein metallischer Sopran französischer Abstammung, ihr Vater besaß einen durchaus ansprechenden italienischen Schmelz. Bei der Mutter handelte es sich zweifelsfrei um eine Osteuropäerin, während Hänsels teutonischer Akzent deutlicher nicht hätte sein können.« Was, so fuhr er fort, im Prinzip für diese Oper eines deutschen Komponisten ideal gewesen wäre, hätte man sie nicht aus Gründen des besseren Verständnisses in englischer Sprache aufgeführt.
Das Leid des Rezensenten wurde im Verlauf der spitzzüngigen Rezension für den Leser geradezu mit Händen greifbar, und schließlich wünschte man sich gemeinsam mit ihm, »der Erdboden würde sich auftun«, als seine Töchter das Lied »Ein Männlein steht im Walde« lauthals mitsangen.
In der Pause habe er dann mit den Mädchen die Damentoilette aufsuchen und die verbleibende Kraft darauf verwenden müssen, den teils empörten, teils mitleidigen Blicken anderer Eltern mit Stolz zu begegnen. Wie ein Held habe er sich gefühlt, als er auf den ausdrücklichen Wunsch der Kinder in den Theatersaal zurückgekehrt sei.
»Allerdings begann ich mich zu fragen, ob dieser leicht zu amüsierende Nachwuchs tatsächlich meinen Lenden entsprungen sein konnte. Doch dann kam der Sandmann.«
Niemals zuvor sei er von dieser zweieinhalbminütigen Arie mehr aufgewühlt gewesen als an jenem Abend. Die ihm bisher vollkommen unbekannte Sopranistin Pauline Roth habe in grotesker Verkleidung als alternder Obdachloser auf eine Weise sein Herz berührt, dass er sich fortan den allabendlichen Besuch des Sandmännchens wünsche.
Die Vorstellungen seien vollständig ausverkauft, teilte man
Weitere Kostenlose Bücher