Gib mir deine Seele
spürte, wie die Anspannung der letzten Tage langsam von ihr abfiel.
Nachdem sie ihren Aperitif zu sich genommen hatten, sprachen sie über die Aufführung.
»Es ist toll, mit der kleinen Arie solchen Erfolg zu haben. Aber die anderen haben doch auch gut gesungen, und der Szenenapplaus war mir total peinlich«, sagte Pauline und drehte das filigrane Glas in ihren Händen.
»Aber du warst die Beste! Wir sind so stolz auf dich.« Jillian legte ihre Hand auf Paulines Arm, und Marguerite ergänzte: »Wir haben deinen Sandmann-Auftritt natürlich schon im Internet gesehen, aber live war es ein einmaliger Genuss.«
Irgendjemand hatte ihre Arie heimlich aufgenommen und bei YouTube hochgeladen. Pauline gefiel das überhaupt nicht, aber vielleicht würde sie sich in Zukunft ja an diese Form von Aufmerksamkeit gewöhnen müssen.
Ihre Zieheltern wollten auch alles über die neue Lehrerin wissen. Pauline erzählte ihnen, dass Elena Corliss eine berühmte Sängerin gewesen war, deren Karriere nach einer Stimmbandoperation ein jähes Ende gefunden hatte. »Die Corliss hat mir eine Agentur empfohlen, und stellt euch vor, die haben mich tatsächlich genommen. Im Januar wollen sie Termine zum Vorsingen arrangieren. Das ist alles so aufregend.«
»Wenn du Geld für die Reisen brauchst …«
»Nein, nein. Ihr habt schon so viel für mich getan. Ich habe einen kleinen Bonus bekommen, da die Vorstellungen bis zum Schluss ausverkauft waren. Damit und mit der Gage komme ich ein gutes Stück weiter. Außerdem habe ich ein Angebot für einen Liederabend im Februar, und David sagte, er bekäme ganz sicher den Zuschlag für ein Katalogshooting, in das er mich irgendwie einbauen könnte.«
Tante Jillian musterte sie kritisch. »Aber du bist doch kein Model.«
»Natürlich nicht, aber für die Sachen, die er fotografiert, habe ich die richtige Figur.« Kaum waren die Worte heraus, bereute sie schon, Davids Angebot überhaupt erwähnt zu haben, denn nun mischte sich Marguerite ein. »Pass auf, dass keine kompromittierenden Fotos von dir entstehen. Wenn du erst einmal berühmt bist, kann dir so etwas sehr schaden.«
»So einer ist David nicht. Er ist echt nett. Ein Freund.«
»Dann ist es ja gut.«
Marguerite und Jillian fragten natürlich auch nach Constantin, aber als sie hörten, dass er sich seit der ersten Gesangsstunde nicht mehr gemeldet hatte, ließen sie das Thema schnell fallen.
Es wurde ein wunderbarer Abend. Erst als sie sich zum Abschied umarmten, kam es Pauline vor, als wäre ihre Tante, die sie als bodenständig und zupackend kannte, dünner geworden war. Beinahe zerbrechlich fühlte sich ihr schmaler Körper an. »Geht es dir gut?«, fragte sie, und ihr fiel ein, dass ihr Jillian, die immer viel im Garten arbeitete und selbst im Winter jeden Tag draußen war, schon vorhin ungewöhnlich blass vorgekommen war.
»Ja, natürlich. Es ist alles in Ordnung.« Die Antwort kam ein bisschen zu schnell für Paulines Geschmack. Aber ein prüfender Blick in Marguerites Richtung brachte ihr auch keine andere Information, und so beschloss sie, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen.
Drei Tage später schleppte sie mit Henry den großen Suppentopf durch heftige Regenschauer zum Pub. Ihre Kostüme steckten in einem prall gefüllten Müllsack, wobei es die Engelsflügel waren, die den meisten Platz benötigten.
Die Party war bereits in vollem Gang. Laute Musik und Gelächter drangen zu ihnen heraus, als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und Davids Freundin an ihnen vorbei auf den nassen Gehweg stürmte. »Er ist so ein Arschloch!«, rief sie und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich will ihn nie wieder sehen.«
Henry und Pauline grinsten sich an. Solche Ausbrüche kannten sie schon. Die beiden stritten und versöhnten sich fast jede Woche, und keiner ihrer Freunde nahm das mehr ernst. Und tatsächlich kam nun auch David heraus. »Nina, warte doch! So habe ich das nicht gemeint«, brüllte er, hielt Pauline und Henry die Tür auf und rannte dann seiner Freundin hinterher.
Sie wurden mit großem Hallo begrüßt.
Leo kam hinter der Theke hervor und nahm ihnen den schweren Topf ab. »Die Bande hat schon nach der Mitternachtssuppe gefragt«, sagt er. »Eure Sachen könnt ihr in meinem Büro abstellen.« Dabei tat der Wirt so, als wäre es vollkommen normal, dass seine Gäste mit schwarzen Müllsäcken hereinspazierten.
»Danke für deine Einladung, Leo«, sagten beide artig, aber er winkte nur lachend ab.
Mag, die das Pub
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