Gib mir deine Seele
der sie mit scharfem Blick beobachtet hatte, stand auf und legte ihr seine Hände auf die Schultern. Die kreisenden Bewegungen der Daumen auf ihrem Nacken fühlten sich wunderbar an, und Pauline spürte, wie sich die Muskeln entkrampften und Lebenskraft zurückkehrte.
Und endlich konnte sie darüber nachdenken, was eben geschehen war: Der liebste Mensch auf der Welt war gestorben! Und während Constantins Hände langsam über ihren Rücken, ihre Arme, die Taille glitten und sich wohlige Wärme in ihrem Körper ausbreitete, erinnerte sie sich an ihre Zeit mit Jill. An das gemeinsame Lachen, Singen, an die vielen schönen Stunden. Als Constantin sie schließlich einfach hochhob und in ihr Bett legte, fühlte es sich an, als würde sie nach Hause kommen.
»Schlaf!«
Bereitwillig folgte sie der Anweisung.
Stunden später, nachdem sie sich aus den Tentakeln eines Albtraums befreien konnte, in dem sie in endlos langen, grauen Gängen verzweifelt nach ihrer Tante gesucht hatte und hinter den unzähligen Türen nur auf leere, verwüstete Landschaften gestoßen war, war es eisig kalt in ihrem Zimmer. Pauline fror und fühlte sich schrecklich allein. Von draußen fiel schwach das Licht der Straßenlaternen herein, und außer dem leisen Gluckern des Regens in der Dachrinne war nichts zu hören. Eine beunruhigende Stille für jemanden, der schon lange den Lärm einer Großstadt wie London gewohnt war. Sie wollte gerade wieder die Augen schließen, da hörte sie noch etwas anders: ein Kratzen, als versuchte etwas, zu ihr ins Zimmer zu kommen.
Unfug , dachte sie, das werden Mäuse sein. Bei genauerem Lauschen schien sich der Verdacht zu bestätigen, denn es waren zarte Trippelschritte zu hören. Doch ob nun Mäuse oder Pixies – kleine, zu Schabernack aufgelegte Kobolde – nachts ihr Unwesen in dem ehemaligem Stall trieben, sie hatten es geschafft, Pauline zu erschrecken. Hier wollte sie nicht allein bleiben. Sie schlug die Decke zurück, stand steifbeinig auf und tauschte das zerknautschte T-Shirt gegen ein langes Nachthemd.
Ja, sie kannten sich kaum. Ja, sie hatten in Berlin gestritten, und es gab Dinge, über die sie dringend sprechen mussten. Doch dazu würde es später ausreichend Gelegenheit geben. Falls nicht – auch gut. Pauline ging Auseinandersetzungen ohnehin lieber aus dem Weg, statt sich ihnen zu stellen. Wahr scheinlich lag das an einem geheimnisvollen Harmonie-Gen … oder sie war einfach nur ein Feigling. Ganz gleich, woran es liegen mochte, Pauline brauchte jetzt Halt, keinen Streit.
So leise wie möglich verließ sie ihr Zimmer und tapste im schwachen Licht der Nachtbeleuchtung über den Gang. Zwei Türen weiter legte sie ihre Hand auf Constantins Türklinke – es war nicht abgeschlossen.
Im Raum hing ein Hauch seines unverwechselbaren Dufts. In einem vorübergehenden Anfall von Schwäche schloss sie kurz die Augen. Dann atmete sie tief ein, schlich zum Bett und schlüpfte hinein.
Wärme empfing sie, und ein Arm legte sich um ihre Taille. Er zog sie an sich und murmelte etwas, das klang wie: Endlich bist du da. Ich habe eine Ewigkeit auf dich gewartet!
Aber da musste sie sich verhört haben, denn sein Atem ging weiter gleichmäßig – Constantin schlief tief und fest.
Selten lösten nächtliche Fantasien in ihm ein vergleichbares Wohlbehagen aus. Wärme, eine zärtliche Berührung, ein Körper, der sich dicht an ihn schmiegte, weiche Rundungen an seiner harten Muskulatur, wie für ihn geschaffen. Vertrauensvoll. Constantin hätte ewig so liegen können. Morpheus aber schickte ihn mit einem höhnischen Lachen in die Welt hinaus.
Vor seinen halb offenen Augen flackerten Straßenlaternen, bevor eine nach der anderen erstarb und ein müdes Morgengrau hinterließ. Noch einmal schloss er die Augen. Pauline. Etwas regte sich. Da begriff er. Pauline! Hier. Bei ihm. In seinem Bett. Wann war sie zu ihm gekommen?
Sie schlief noch. Prüfend betrachtete er ihr Gesicht – oder das, was im Zwielicht davon zu erkennen war. Die Partie um die Augen vom Weinen noch gerötet, die Haut blass und porzellanglatt unter dem rabenschwarzen Medusenhaar.
Nie würde er vergessen, wie sie ihre Locken für ihn von Klammern und Nadeln befreit hatte, bis sie ihr so ungezügelt wie Pauline selbst in ihren leidenschaftlichsten Momenten über den anmutigen Körper geglitten waren, um ihn schließlich auf höchst verführerische Weise zu verhüllen.
In ihm rührte sich eine finstere Stimme, die verlangte, niemand außer ihm
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