Gib's mir
Telefonnummer, Geburtstag, die Anzahl der Tore, die er für die Schulmannschaft geschossen hatte und – am allertollsten – seinen Stundenplan, und zwar auswendig. Ich lebte für jene Momente, in denen wir beim Wechsel der Klassenräume im Meer der blauen Schulblazer aneinander vorbeischwammen.
Ich hatte einen Schuhkarton, in dem ich alle Erinnerungen an den Jungen meiner Träume aufbewahrte. Auf den Deckel hatte ich seinen Namen geschrieben (mit Filzstift und in Schönschrift natürlich), und darin hob ich mein Tagebuch auf («Hab ihn heute nach der Physik-Doppelstunde gesehen. Er hatte wieder weiße Socken an. Er sah unheimlich süß aus» und so weiter). Ich hatte auch noch ein paar Bonbonpapiere, die ich, als ich liebeskrank auf seinen Spuren wandelte, wieder aus dem Papierkorb fischte, in den er sie geworfen hatte; ich besaß einige seiner Busfahrkarten, 21 insgesamt; ich hatte auch einen Zigarettenstummel, von dem ich mir allerdings niemals sicher war, ob seine Lippen ihn jemals berührt hatten; und – oh – ich hätte fast seinen Stift gehabt, wenn ich ihm nicht, einem Aufbäumen meiner Hoffnung folgend, ich könnte so seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen, hinterhergerufen hätte.
Eigentlich sollte ich jetzt wohl älter und weiser sein, aber meine Teenager-Neurose kehrte zurück, als ich mein Päckchen umklammert hielt, eingeschnürt in braunes Packpapier. Ilyas Handschrift war ein Genuss – etwas Greifbares, ein weiterer Beweis dafür, dass es ihn gab –, und sie ergänzte das wenige, was ich über ihn wusste.
Ich bin keine Graphologin und suchte nicht nach irgendwelchen Hinweisen in seiner Handschrift. Mich machte es einfach zufrieden, sie zu sehen: fein und eckig, rätselhaft unzivilisiert.
Hätte ich noch meinen Schuhkarton gehabt, dann würde ich wohl das Stück Papier behalten haben. Stattdessen stürzte ich hoch in meine Wohnung und riss das Paket auf. Bei meiner neuen, irgendwie klobig aussehenden Kamera lag eine Notiz. Darauf stand:
Verführ mich. Stell sicher, dass Dein Bild diesen Freitag auf meiner Fußmatte landet. Ich werde dafür sorgen, dass Du meins bekommst, zur selben Zeit. Warten, was der andere schickt, gilt nicht. Gleichzeitig oder gar nicht. Wenn Du es dir anders überlegt hast und nichts schicken willst, dann vergessen wir die Sache, ein für alle Mal. Dann werde ich keinen Kontakt mehr zu Dir suchen. Dich nicht mehr beobachten. Versprochen. Und die Kamera bleibt Deine. Viel Spaß. Ilya
Freitag. Das bedeutete, am Donnerstag in die Post, als Briefsendung. Morgenleerung, um sicherzugehen. Wenn ich es nicht von Hand zustellen wollte. Nein. Wollte ich ihm etwa an der Tür begegnen? Das würde ja alles verderben, und außerdem wäre es peinlich. Ich las noch einmal seine Nachricht: «Verführ mich.»
Und ich erinnerte mich daran, was er am Telefon gesagt hatte: «Ein Foto, das du dir nicht auf den Kamin stellen würdest.»
Ich lag nackt auf meinem Bett, das Kinn in die Hand gestützt, betrachtete die verruchten Bilder, die über die Decke verstreut lagen. Auf allen war ein Stückchen meines Körpers zu sehen: Nahaufnahmen einer steifen Brustwarze; mein Dekolleté in einem Push-up-BH; viele Schnappschüsse mit gespreizten Beinen, einige ziemlich schräg, einige akzeptabel. Es ist schwierig, den richtigen Ausschnitt zu finden, wenn man nicht durch den Sucher sehen kann.
Ich fragte mich, was am Freitagmorgen auf meiner Fußmatte landen würde. Er würde mir wohl ein Bild seines steifen Schwanzes schicken müssen. Was sonst könnte ein Kerl zeigen, was nicht für den Kamin geeignet wäre? Wie sein Ständer wohl aussähe? Und würde er das Foto von oben aufnehmen? Oder die Kamera vor sich halten?
Und was sollte ich ihm schicken?
Ich beschloss, dass die Schnappschüsse von meiner klaffenden Spalte wohl die besten waren. Vor meiner Fotosession hatte ich mich rasiert und so an meinem Schamhaar herumgeschnippelt, dass nur noch ein spärliches Dreieck hellbrauner Löckchen übrig geblieben war. Außerdem hatte ich masturbiert. Auf den Bildern sah man also stolz hervorquellende und üppige Schamlippen, rosig und glänzend.
Ja, dachte ich, davon sollte ich ihm eins schicken. Sie waren dreist und von mutwilliger Eindeutigkeit. Und wahrscheinlich nahm er an, ich würde mich nicht trauen, ihm so was zu schicken. Bis jetzt hatte er den Ton angegeben: mich beobachtet, mich angerufen, mich ermuntert, über schmutzige Sachen zu reden.
Ich würde mich aber nicht mehr damit begnügen, ihm
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