Gideon Crew 01 - Mission - Spiel auf Zeit
offensichtlich.«
»Also wozu das Ganze? Warum diese Scharade? Und erzähl mir bloß nicht wieder irgendwelchen Scheiß von wegen New Yorker Schauspielmethode.«
Die Klassenlisten und die Anwesenheitslisten vom siebten Juni waren jetzt sicher in Gideons Jacketttasche verstaut. Sie würden genau zeigen, welches asiatische Kind am folgenden Morgen nach Wus Landung auf dem JFK im Unterricht fehlte. Denn ein Kind, das sich nach Mitternacht im Wartebereich der internationalen Ankunftshalle des JFK Airport aufhielt, würde am nächsten Morgen wohl kaum in die Schule gehen; so jedenfalls Gideons Annahme.
»Um das völlige Aufgehen in einer Rolle, darum geht’s«, sagte Gideon. »Ich gebe dir mein Ehrenwort: Es geht hier ausschließlich um Schauspielerei. Und du bist ein Star.«
46
»Ich wünschte mir nur, du würdest mir erklären, was zum Teufel hier
wirklich
abläuft!«, sagte Orchid, als sie um die Ecke 50. Straße und Park Avenue bogen. Gideon schritt rasch aus. Während der gesamten Rückfahrt war er ihren Fragen ausgewichen und hatte versucht, sich auf seinen nächsten Schritt zu konzentrieren. Aber sie hatte zunehmend genervt auf seine Ausflüchte reagiert.
Sie strengte sich an, mit ihm Schritt zu halten. »Herrgott noch mal, wieso willst du eigentlich nicht mit mir reden?«
Gideon seufzte. »Weil ich es leid bin, Menschen anzulügen. Besonders dich.«
»Dann sag mir doch die Wahrheit!«
»Das wäre gefährlich.« Als sie am Eisentor des Saint Bart’s Park vorbeigingen, hörte Gideon einige kurze Takte eines alten Bluesstücks, gespielt von einem Straßenmusiker. Er blieb unvermittelt stehen und lauschte. Die leisen Gitarrenklänge schwebten über dem Lärm des mittäglichen Verkehrs zu ihm herüber.
Er legte ihr die Hand auf den Arm. »Warte mal.«
»Du kannst mich doch nicht hier im …«
Er drückte ihren Arm leicht und warnend, und sie hörte auf zu reden. »Bleib ganz ruhig«, murmelte er. »Nicht reagieren.«
Gideon lauschte der leisen Musik, dem rauhen Gesang.
In my time of dyin’
Don’t want nobody to mourn
»Was ist das?«, flüsterte Orchid.
Gideon antwortete, indem er weiterhin ihren Arm sanft drückte. Er wandte sich um und tat so, als nehme er einen Anruf auf seinem Handy entgegen, denn so hatten sie einen Anlass, stehen zu bleiben und der Musik zuzuhören.
All I want for you to do
Is to take my body home
Gideon erkannte das Lied: eine Nummer von Blind Willie,
In My Time of Dying
. Es weckte in ihm ein leises Gefühl von déjà vu. Er kramte in der Erinnerung und überlegte, wo er die gleiche Bottleneck-Gitarre vor kurzem schon einmal gehört hatte.
Bottleneck-Gitarre.
Auf der Avenue C. Aber da hatte keine Gitarre gespielt, ein Obdachloser hatte vielmehr den gleichen alten Bluessong gesummt. Als er das Diner verlassen hatte. Er stellte sich die dunkle Straße vor und erinnerte sich, dass ein Obdachloser auf einer Haustreppe gesessen hatte, summend, einfach nur summend.
Well, well, well so I can die easy
Well, well, well
Well, well, well so I can die easy
Jetzt hörte Gideon ganz genau hin. Der Typ spielte gut. Mehr als gut. Nicht auftrumpfend, nicht nur technisch, sondern entspannt und langsam, so wie ein echter Mississippi Delta Blues gespielt werden sollte. Aber noch während er zuhörte, wurde ihm klar, dass einige Textzeilen sich von jener Fassung unterschieden, die er am besten kannte. Das hier war eine andere Version, eine, mit der er nicht vertraut war.
Jesus gonna make up
Jesus gonna make up
Jesus gonna make up my dyin’ bed
Plötzlich wurde ihm alles klar. Er verbarg seine Überraschung, klappte das Handy zu, als wäre der Anruf beendet, und zog Orchid am Arm weiter in Richtung der Markise des Waldorf. Sobald sie drinnen waren, beschleunigte er seine Schritte und stieß Orchid vor sich her durch das Foyer, vorbei an einer riesigen Blumenvase, in Richtung Peacock Alley.
»Hey! Was soll das?«
Sie liefen am Oberkellner vorbei, wischten seine hingehaltenen Speisekarten beiseite, gingen mitten durchs Restaurant in den rückwärtigen Bereich und durch die Doppeltür in die Küche.
»Wo wollen Sie hin?« Die Stimme des Oberkellners ertönte über dem Geklapper der Töpfe und den Rufen des Küchenpersonals. »Sir, Sie können nicht …«
Aber Gideon strebte bereits dem hinteren Bereich der Küche zu. Er stieß eine weitere Doppeltür zu einem langen Korridor auf, von dem links und rechts Kühlräume abgingen.
»Kommen Sie zurück!«, rief der Oberkellner.
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