Gideon Crew 01 - Mission - Spiel auf Zeit
kleinen Raum befand sich lediglich ein Objekt, das als Dekoration angesehen werden könnte: die stark verknickte und verblasste Fotografie einer braunen und verlassen wirkenden Bergkette – der Pamir in der Autonomen Region Xinjiang der Volksrepublik China. Nodding Crane legte seine Gitarre vorsichtig beiseite und hängte seinen Mantel an einen Metallhaken, setzte sich auf die Reispapiermatte und betrachtete die Fotografie eingehend und konzentriert, exakt fünf Minuten lang.
Er war auf dieser Hochebene geboren worden, im Schatten dieser Berge, weit weg von irgendeinem Dorf. Sein Vater war ein armer Hirte und Kleinbauer gewesen, der starb, als der Sohn noch kein Jahr alt war. Seine Mutter hatte versucht, den Hof weiterzuführen. Eines Tages, als Nodding Crane sechs war, kam ein Mann vorbei. Er sah ganz anders aus als irgendein Mensch, den Nodding Crane je gesehen hatte, und sprach Mongolisch langsam und mit einem seltsamen Akzent. Der Mann sagte, er komme aus Amerika – Nodding Crane hatte vage von jenem Ort gehört. Er sagte, er sei Missionar, reise von Dorf zu Dorf, aber für Nodding Crane sah er mehr wie ein Bettler und weniger wie ein Mann Gottes aus. Im Austausch gegen eine Mahlzeit wollte er mit ihnen beten und sie das Wort Gottes lehren.
Seine Mutter lud den Mann ein, mit ihnen zu Abend zu essen. Der Mann nahm an. Während des Essens sprach er von fernen Orten, von seiner seltsamen Religion. Er war ein wenig ungeschickt mit den Stäbchen und wischte sich den Mund am Ärmel ab, und er nahm auch immer wieder schnelle Schlucke aus einer kleinen, flachen Flasche. Nodding Crane mochte es nicht, wie er seine Mutter mit seinen feuchten Augen anstarrte. Hin und wieder stimmte er eine schmerzliche, traurige Art von Musik an, die Nodding Crane neu war. Nach dem Abendessen, als sie Tee tranken, begann der Mann, Nodding Cranes Mutter zu betatschen. Als sie sich ihm entzog, stieß er sie zu Boden. Nodding Crane warf sich auf den Mann und wurde heftig zur Seite geschleudert. Als der Mann anfing, seine Mutter zu vergewaltigen, versuchte er wieder, sie zu verteidigen. Aber der Mann war stark und schlug ihn mit einem Ziegelstein bewusstlos. Als er aufwachte, fand er seine Mutter erdrosselt vor.
Einige Tage darauf nahmen ihn Shaolin-Mönche mit, damit er in ihrem Tempel lebte. Anders als das Kung-Fu-Training war das mönchische Leben jedoch letztlich nicht nach seinem Geschmack, und als er alles gemeistert hatte, das sie ihn lehren konnten, lief er davon, reiste erst nach Hohhot und dann nach Changchun, wo er auf der Straße lebte und zum Meisterdieb wurde. Das war, ehe die Staatspolizei ihn festnahm und, als man sein Talent erkannt hatte, zum Büro 810 schickte, damit er dort eine Spezialausbildung durchlief.
Jeden Tag, ohne Ausnahme, hing Nodding Crane diesen bitteren Gedanken nach, während er die vergilbte Fotografie seiner fernen Heimat betrachtete. Das war seine Meditation. Er erhob sich und absolvierte eine längere Reihe von Atem- und Lockerungsübungen. Dann – in absoluter Stille – führte er die neunundzwanzig rituellen Schritte der Kata »Fliegende Guillotine« aus. Ein wenig schwerer atmend setzte er sich wieder auf die Reispapiermatte.
Gideon Crew hatte sein Ziel beinahe erreicht. Nodding Crane war nun überzeugt, dass Crew ihn zu dem führen würde, wonach er suchte. Und wenn sich Crew seinem Ziel näherte, würde er aufgeregt sein, in Eile. Dann war der richtige Zeitpunkt für das Täuschungsmanöver gekommen, den unerwarteten Vorstoß in die Flanke. Das Mädchen würde diesem Zweck sehr dienlich sein.
Schenke deinem Gegner keine Ruhe
, hatte Sun Tzu geschrieben.
Greife dort an, wo er nicht vorbereitet ist, erscheine dort, wo du nicht erwartet wirst
.
Seit jenem Abend auf der Hochebene des Pamirs vor vielen Jahren hatte Nodding Crane nie mehr gelächelt. Dennoch verspürte er jetzt tief im Inneren eine wohlige Wärme, ein befriedigtes Glimmen angesichts der ausgeführten Gewalttat, ein erwartungsvolles Glimmen angesichts weiterer bevorstehender Gewalttaten.
Er schob die Hand in eine Öffnung im Saum des Futons und zog einen kleinen Koffer aus kugelsicherem Hartplastik hervor, der in einer Höhlung verborgen war, aus der die Füllung entfernt worden war. Er entschärfte den Sprengkörper, der den Koffer sicherte, dann klappte er ihn auf. Darin befanden sich sechs Handys; chinesische, Schweizer, britische Pässe; Abertausende Dollar in einer Vielzahl von Währungen; eine Glock 19 mit Schalldämpfer;
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