Gideon Crew 01 - Mission - Spiel auf Zeit
Strom«, sagte Gideon.
»Genau.«
»Und?«
»Und hier handelt es sich um eine besondere Art von Draht. Er leitet Strom, aber auf eine andere Weise.«
»Ich kapiere überhaupt nichts mehr«, sagte O’Brien.
»Wir haben es hier«, sagte sie triumphierend, »mit einem Zimmertemperatur-Supraleiter zu tun.«
Stille.
»Ist das alles?«, fragte O’Brien.
»Ist das alles?« Sie starrte ihn ungläubig an. »Das ist der Heilige Gral der Energietechnik.«
»Ich hatte mit etwas gerechnet, das … die Welt verändern würde«, sagte O’Brien lahm.
»Es würde die Welt
umkrempeln
, du Dussel! Neunundneunzig Prozent aller Elektrizität in der Welt gehen aufgrund des Widerstands bei der Übertragung von der Quelle bis zum Verbrauch verloren.
Neunundneunzig Prozent!
Aber durch einen Supraleiterdraht fließt Elektrizität ohne
irgendeinen
Widerstand. Ohne
irgendeinen
Verlust an Energie. Wenn man sämtliche Überlandleitungen in Amerika durch Drähte aus diesem Zeug ersetzte, dann würde sich der Stromverbrauch um neunundneunzig Prozent verringern.«
»Oh, mein Gott«, murmelte O’Brien, als ihm klar wurde, was das bedeutete.
»Ja. Der gesamte Energiebedarf der USA ließe sich mit nur einem Prozent der Menge befriedigen, die heute erforderlich ist. Und dieses eine Prozent könnte mühelos von bestehenden Solar-, Wind-, Wasser- und Nuklearanlagen gedeckt werden. Keine Kohlekraftwerke, keine Erdölraffinerien mehr. Transport- und Verarbeitungskosten würden enorm fallen. Strom wäre praktisch umsonst. Autos, die mit Strom fahren, würden im Verbrauch so gut wie nichts kosten – sie würden die erdölbasierte Fahrzeugindustrie hinwegfegen. Die Erdöl- und die Kohleindustrie würden zusammenbrechen. Wir reden hier im Kern vom Ende der fossilen Energieträger. Keine Treibhausemissionen mehr, keine OPEC mehr, die die Welt an der Kandare hält.«
»Mit anderen Worten«, sagte Gideon, »das Land, das diese Entdeckung kontrolliert, würde alle anderen wirtschaftlich an die Wand drängen.«
Epstein lachte harsch. »Schlimmer noch. Das Land, das über dieses Material verfügt, würde die Weltwirtschaft
kontrollieren
. Es würde die Welt beherrschen.«
»Und alle anderen wären am Arsch«, sagte O’Brien.
Sie sah ihn an. »Das wäre der technische Ausdruck dafür, ja.«
54
STELLT ALLE GESPRÄCHE EIN , LASST ALLES LACHEN FLIEHN . DIES IST DER ORT , AN DEM DER TOD SICH DARAN FREUT , DEN LEBENDEN ZU HELFEN .
Es war zwei Uhr morgens, und Gideon war es allmählich leid, wieder und wieder denselben Spruch über der Tür zur Leichenhalle zu lesen. Der Satz ärgerte ihn; er war makaber und selbstgefällig zugleich. Soweit er das erkennen konnte, war nichts Erfreuliches an diesem grimmigen, lärmerfüllten Ort – und am Tod erst recht nicht.
Er wartete nun schon eine Dreiviertelstunde, und seine Ungeduld hatte ihre Grenze fast erreicht. Die Rezeptionistin bewegte sich wie unter Wasser, schob ein Papier hierhin, ein anderes dorthin, nahm einen Anruf entgegen und murmelte mit leiser Stimme, während sie den Papierkram mit ihren langen roten Fingernägeln klickend und klackend hin und her beförderte.
Es war grotesk. Er stand auf und ging hinüber. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich warte jetzt schon fast eine Stunde.«
Sie blickte auf. Ihre Fingernägel hörten auf zu klicken. Die schwarzen Wurzeln schienen durch die blond gebleichten Haare. Sie war eine hartgesottene New Yorkerin von der alten Schule. »Wir haben einen Mordfall hereinbekommen. Hat das Personal mit Beschlag belegt.«
Ein Mordfall?
Wow, das ist ja ganz etwas Seltenes in New York
City,
dachte Gideon durch den Nebel der Verärgerung. Ob es sich wohl um den handelte, den er vor Saint Bart’s mitbekommen hatte? »Schauen Sie, mein …
Lebensgefährte
liegt in irgendeinem Kühlfach da drin, und ich möchte nur ein paar Minuten allein mit ihm sein.« Er legte einen ärgerlichen, nörgelnden Ton in seine Stimme. »Nur ein paar Minuten.«
»Mr. Crew«, sagte sie völlig unbeeindruckt, »Ihnen ist doch wohl klar, dass sich die sterblichen Überreste Ihres Partners seit fünf Tagen hier befinden und wir seitdem auf Ihre Anweisungen warten? Sie hätten jederzeit reinkommen können. In der Akte hier steht, dass wir Sie mindestens«, sie schaute im Computer nach, »ein halbes Dutzend Mal zu erreichen versucht haben.«
»Ich hatte mein Handy verloren«, sagte er. »Und ich war auf Reisen.«
»Okay. Aber Sie können doch wohl nicht um ein Uhr früh hier reinschneien und
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