Gideon Crew 02 - Countdown - Jede Sekunde zählt
Mathematik, Musik, Kunst und Lesen. Einer der Umzüge mit seiner Mutter – er war damals siebzehn – verschlug sie nach Laramie im Bundesstaat Wyoming. Eines Tages hatte er den örtlichen Kulturverein aufgesucht und den Tag damit zugebracht, die Zeit totzuschlagen, anstatt zur Schule zu gehen. Niemand würde ihn finden, denn wer käme schon darauf, hier nach ihm zu suchen? Der Kulturverein war in einem alten viktorianischen Gebäude untergebracht, ein verstaubtes Gewirr von Räumen mit dunklen Ecken, vollgestopft mit Erinnerungsstücken und Western-Tinnef – Revolver, mit denen Banditen erschossen worden waren, von denen niemand je gehört hatte, indianisches Kunsthandwerk, Kuriositäten aus der Pionierzeit, rostige Sporen, Bowie-Messer sowie eine bunte Sammlung von Gemälden und Zeichnungen.
Gideon fand Zuflucht in einem Zimmer im rückwärtigen Teil, wo er ungestört lesen konnte. Nach einer Weile wurde er auf einen kleinen Holzschnitt aufmerksam, einen von vielen Drucken, die ungeschickt plaziert und viel zu eng nebeneinander an einer Wand hingen. Der Druck stammte von einem Künstler, von dem er noch nie gehört hatte, Gustave Baumann, und trug den Titel Drei Kiefern. Eine schlichte Komposition, mit drei kleinen, krüppeligen Kiefern, die auf einem öden Gebirgskamm wuchsen. Aber je länger er das Blatt betrachtete, desto mehr fühlte er sich davon angezogen. Dem Künstler war es gelungen, den drei Bäumen ein Gefühl von Würde und Wert und so etwas wie eine fundamentale Baumheit zu verleihen.
Dieser hintere Raum im Kulturverein wurde zu Gideons Zufluchtsort. Nie fand man heraus, wo er steckte. Er hätte sogar auf seiner Gitarre spielen können, ohne dass die taube alte Dame, die am Eingangstresen döste, es je bemerkt hätte. Gideon wusste zwar nicht, wie oder warum, aber im Laufe der Zeit verliebte er sich in diese zerzausten Bäume.
Und dann wurde seine Mutter arbeitslos, und sie mussten mal wieder umziehen. Gideon hasste es, sich von dem Holzschnitt verabschieden zu müssen. Er konnte sich nicht vorstellen, das Bild nie wiederzusehen.
Und so stahl er es.
Dies stellte sich als eines der aufregendsten Dinge heraus, die er je getan hatte. Und dabei war es so leicht gewesen! Einige lässig gestellte Fragen enthüllten, dass der Kulturverein über so gut wie keine Sicherheitsvorrichtungen verfügte und dass der verstaubte Bestandskatalog nie überprüft wurde. So betrat Gideon also eines bitterkalten Wintertages das Gebäude, mit einem kleinen Schraubenzieher in der Gesäßtasche, nahm den Druck von der Wand und steckte ihn sich unter den Mantel. Bevor er ging, wischte er die Stelle an der Wand ab, an der der Druck gehangen hatte, um die Staubmarkierungen zu entfernen, und hängte zwei andere Drucke neu, um die Schraubenlöcher zu verdecken und die Lücke zu vertuschen. Das Ganze dauerte fünf Minuten, und als er fertig war, konnte niemand auch nur ahnen, dass ein Bild fehlte. Es war tatsächlich ein perfektes Verbrechen. Und Gideon sagte sich, dass es gerechtfertigt war – niemand liebte das Bild, niemand betrachtete das Bild, ja, niemand nahm es überhaupt wahr, und außerdem ließ es der Kulturverein einfach in einem dunklen Winkel verrotten. Er fühlte sich tugendhaft wie ein Vater, der ein ungeliebtes Waisenkind adoptiert.
Doch was für ein köstlicher Nervenkitzel es gewesen war! Eine geradezu körperliche Empfindung. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er sich lebendig, sein Herz pochte, seine Sinne waren rasiermesserscharf. Die Farben wirkten heller; die Welt sah anders aus, wenigstens eine Zeitlang.
Er hängte das Bild über das Bett in seinem neuen Zimmer in Stockport im Bundesstaat Ohio. Seine Mutter bemerkte das Kunstwerk gar nicht und ließ nie eine Bemerkung darüber fallen.
Er war überzeugt, dass das Bild nahezu wertlos war. Doch einige Monate darauf, als er in einigen Auktionskatalogen blätterte, stellte er fest, dass es zwischen sechs- und siebentausend Dollar wert war. Zu der Zeit benötigte seine Mutter unbedingt Geld für die Miete, deshalb überlegte er, ob er den Druck verkaufen sollte. Doch er konnte sich nicht vorstellen, sich davon zu trennen.
Aber da brauchte er schon einen weiteren Nervenkitzel. Einen weiteren Schuss.
Und so fing er an, sich an der Muskingum Historical Site, einer nahegelegenen historischen Stätte, herumzutreiben, wo es eine kleine Sammlung von Radierungen, Stichen und Aquarellen gab. Er wählte eines seiner Lieblingsbilder aus, eine Lithographie von
Weitere Kostenlose Bücher