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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und erblickten das Dunkel, den Verfall, der darunter lag, in den uralten Zimmern der Häuser und im Trachten verdorbener Geister. Das Schicksal hatte sie zu Auserwählten gemacht, denen es einen Blick in den Abgrund erlaubte, einen Blick auf das Böse, schlafend in seinem Nest und verborgen in den Schatten, träumend wie ein Oktopus in den Tiefen eines Ozeangrabens.

1.
     
    Er war wieder da – Valerie erkannte seine geschwungenen, fast aristokratischen Züge im Halbdunkel des Zuschauerraums, gleich in der ersten Reihe, wo sie ihn schon gestern, vorgestern und an den Tagen davor bemerkt hatte. Er beobachtete eindringlich das Treiben der Schauspieler, die sich auf den Brettern verausgabten, und sie sah, daß sein Blick jeder Bewegung mit beinahe mechanischer Präzision folgte – vor allem ihren eigenen.
    Die Bühne des Théâtre du Grand Guignol war nicht groß, kaum zehn Schritte breit, und das halbe Dutzend Menschen, das sich auf das grausame Finale von André Nourys Die Blutgräfin vorbereitete, war eine ungewohnte Menge für diese Bretter.
    Valerie erhob sich mit einer langsamen Bewegung von ihrem Thron in der Bühnenmitte, ließ den Blick mit kaltem Funkeln über die beiden Käfige zu ihrer Rechten gleiten, in denen zwei halbnackte Statistinnen als willenlose Opfer ausharrten, und wandte sich dann an Henri.
    Ein Requisiteur hatte dem kleinwüchsigen Schauspieler einen Buckel unter das Hemd geschnallt, die zerzauste Perücke stand nach allen Seiten von seinem viel zu großen Schädel ab, und das keifende Kichern, das er zwischen seinen schiefen Zähnen hervorzischte, gab ihm den Anschein einer Kreatur, die der wahnsinnigen Gräfin sklavisch ergeben war.
    »Was schabst du da in ihrem Auge, Janos?« rief Valerie mit der tiefen Stimme der Gräfin.
    Henri wandte ihr sein verzerrtes Gesicht zu. Er kauerte krumm neben einer regungslosen Darstellerin, die ausgestreckt auf dem Boden lag. Mit einer stumpfen Messerklinge stocherte er in einem rotgefärbten Aufsatz aus Lehm herum, der das rechte Auge des Mädchens bedeckte; für das Publikum sah es aus wie eine klaffende Gesichtswunde.
    »Aber, Gräfin Bathory«, nuschelte Henri, »wißt Ihr denn nicht, daß gerade die Augenhöhle eines Menschen die größte Menge Blut spendet?«
    Unter den Bodenbrettern begann ein versteckter Bühnenarbeiter roten Sirup durch einen dünnen Schlauch zu pumpen, der im Haar des Opfers endete. In einer gewaltigen Fontäne spritzte die Flüssigkeit in die Höhe und bedeckte Henris Gesicht mit einem roten Schleier. Mehrere Damen im Publikum schrien entsetzt auf.
    Henri sprang hoch, humpelte zu einer rostigen Schüssel hinüber, und kehrte damit zu dem makaberen Springbrunnen zurück, um das Kunstblut darin aufzufangen.
    »Das ist die Letzte«, schrie er irre. »Die Letzte!«
    Valerie stieg mit einer anmutigen Bewegung vom Thronpodest herab, warf mit einer berechnenden Geste ihr langes Haar zurück und glitt in ihrem langen, schneeweißen Kleid zu Henri hinüber. Rote Tropfen sprühten ihr entgegen und öffneten sich wie winzige Purpurblüten auf dem weißen Stoff.
    »Die Letzte, sagst du?« fragte sie.
    Henri kicherte. »Ja, Gräfin. Das Blut von zwanzig Jungfrauen, um Eure Schönheit auf ewig zu erhalten.«
    Valerie hörte, wie eine Zuschauerin aufstöhnte. Der Bogen, in dem die rote Flüssigkeit aus dem versteckten Schlauch spritze, neigte sich jetzt, wurde kleiner und kleiner, bis die Sirupfontäne mit einem letzten Blubbern versiegte.
    Henri bemühte sich, keinen Tropfen aus der Schüssel in seinen Händen zu verlieren, warf Valerie ein anzügliches Grinsen zu und versuchte dann, die Schüssel zu einer gewaltigen Wanne am Rande der Bühne zu balancieren. Dort angekommen, schüttete er das Kunstblut in das riesige Behältnis, das bis unter den Rand mit der schimmernden Flüssigkeit gefüllt war.
    »Euer Bad…«, begann er und hustete wild. »Euer Bad, Madame, ist gerichtet!«
    Während er zu einem schauderhaften Gelächter anhob, tänzelte Valerie mit schwebenden Schritten zu der Wanne hinüber, tauchte einen Zeigefinger hinein, führte ihn an ihre Lippen und berührte seine rot glitzernde Spitze prüfend mit der Zungenspitze.
    »Wunderbar, Janos, wunderbar!«
    Noch ehe die Zuschauer ihren Ekel überwinden konnten, streifte sie ihre Schuhe ab, ließ mit einer einstudierten Bewegung ihr Kleid fallen und glitt in die roten Fluten, bevor ihr nackter Körper länger als nötig den Augen des Publikums ausgesetzt war.
    Ein Aufschrei ging durch

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