Giebelschatten
den Zuschauerraum des Grand Guignol, und im gleichen Augenblick fiel mit einem rasselnden Geräusch der Vorhang und beendete den letzten Akt des Schauspiels.
Während Valerie sich hinter dem Vorhang aus der klebrigen Substanz erhob, hörte sie, wie die Ausrufe des Entsetzens sich allmählich in begeisterten Beifall verwandelten. Wie jeden Abend, seit sie vor über zwei Wochen bei der Premiere des Stückes zum erstenmal als Blutgräfin Erzsebeth Bathory auf der Bühne gestanden hatte, hallte der Applaus minutenlang durch den dämpfenden Stoff des Vorhangs und vernebelte ihre Gedanken mit Stolz.
Neben ihr stöhnte Camille, die Statistin mit der Augenwunde, zog mit einer Grimasse den Blutschlauch aus ihrem Haar und streckte mit einem Lächeln dem grinsenden Henri eine rotverschmierte Wange entgegen. »Na?« forderte sie.
Henris Grinsen wurde noch breiter, und er drückte ihr einen schmatzenden Kuß ins Gesicht. Camille kicherte und drückte den kleinen Mann verspielt an sich.
»Achtung, der Vorhang!« rief ein Bühnenarbeiter aus der Kulisse, und Valerie konnte gerade noch ein weites Tuch um ihre Schultern werfen, bevor sich der schwere Stoff wieder hob und die Stars des Grand Guignol sich der Reihe nach vor dem jubelnden Publikum verbeugten.
Valeries Blick suchte den Fremden in der ersten Reihe, doch sein Platz war leer. Wie in den letzten Tagen, wenn sich der Vorhang nach Ende der Vorführung hob, war der Mann verschwunden. Valerie gefiel es, ihm insgeheim eine Geschichte anzudichten, die ihn in ihrer Phantasie zu einem rätselhaften Prinzen machte, der eines Abends vor dem Theater auf sie warten und sie in seiner Kutsche mit sich hinfort nehmen würde. Und während die Hufe der Pferde auf das nächtliche Pflaster von Paris hämmerten, würde er über sie kommen, mit seinen dunklen Augen und verlangenden Händen.
Kindchen, schalt sie sich schmunzelnd, du bist verrückt.
Der Vorhänge senkte sich zum letzten Mal, und Valerie schlüpfte mit den anderen hinter die Kulisse. Henri scherzte mit Camille und den Statistinnen, die eine gnädige Seele aus ihren Käfigen befreit hatte, doch Valerie mochte ihm im Moment nicht zuhören. Sie wollte nur in ihre Garderobe und das klebrige Kunstblut vom Körper waschen, bevor es trocknete und ihre Haut ruinierte.
Max Maurey, der Regisseur und Theaterleiter, schüttelte ihr im Vorbeigehen grinsend die Hand.
»Warst klasse, Mädchen.«
»Danke, Max.« Sie lächelte zurück und drängte sich an ihm vorbei, während Maurey hinter einem Bühnenarbeiter herrief, der sich mit einer Zigarette in den Schatten einer Kerkerwand aus Pappmache verziehen wollte.
Auf dem schmalen Gang vor ihrer Garderobe wartete Patrick auf sie. Er begrüßte sie mit seinem strahlendsten Lächeln, kam ihr zwei Schritte entgegen und blieb dann stehen. »Valerie!«
Patrick war der ewige Held, der ständige Liebhaber des Théâtre du Grand Guignol, eine wenig imposante Rolle in den düsteren und makaberen Stücken, die Maurey und seine Autoren entwarfen. In der Regel segneten seine Charaktere bereits vor dem Finale das Zeitliche. In der Blutgräfin hatte er als Geliebter Camilles nicht einmal den dritten Akt erleben dürfen.
»Gut gestorben«, lobte Valerie grinsend.
Patrick zog mit fröhlichem Zynismus eine Grimasse. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloß ihn dann aber wieder. Ein geheimnisvolles Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Valerie brauchte einen Augenblick, ehe sie begriff. Das Tuch, das sie sich umgeworfen hatte, war von ihren Schultern gerutscht, und darunter schimmerte, glitzernd unter einem roten Film, der Ansatz ihrer Brüste.
»Mistkerl!« lachte sie, raffte den Stoff zusammen und holte zu einer spielerischen Ohrfeige aus.
Patrick duckte sich lachend, rief »Gnade!« und hatte plötzlich alle Mühe sich zu fangen, als sein Fuß in einer Siruppfütze ausglitt.
Hocherhobenen Hauptes schritt Valerie an ihm vorbei, verkniff sich ein weiteres Kichern und öffnete die Tür zu ihrer Garderobe.
»He, Valerie!« rief Patrick hinter ihr her.
Sie drehte sich um. »Was ist noch?« fragte sie und fügte feixend hinzu: »…Flegel!«
Patrick erwiderte ihren schalkhaften Blick. »Gehen wir noch essen?«
Valerie sah an sich hinunter. »So?«
»Oh, ich kann warten«, gab er zurück und versuchte, neben ihr durch die Tür zu treten. »Zieh dich ruhig aus und wasch dich.«
»Das würde dir gefallen«, unterbrach sie ihn mit einem Schmunzeln und schob ihn mit ausgestrecktem Arm zurück
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