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Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)

Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)

Titel: Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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Nachtschränkchen, doch der Lampenschirm verbarg mehr Licht, als er durchließ. Das Sofa, das seit seinem letzten Besuch vor dem Urlaub unverändert am Fenster stand, war in Zwielicht getaucht. Der schmale Kleiderschrank an der Wand war kaum zu erkennen, und das Bett in der Ecke war leer.
    Was war passiert? War sie …?
    Kalkbrenner hörte Schritte auf dem Gang. Hastig zog er seinen Kopf von der Tür zurück, wollte sich der nahenden Krankenschwester entgegenstellen. Warum hatte man ihm nicht Bescheid gegeben?
    In dieser Sekunde machte er eine kurze Bewegung auf dem Kopfkissen aus. Er ließ die Pflegerin unbehelligt und betrat stattdessen das Zimmer. Leise drückte er die Tür ins Schloss. Ihm fiel auf, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Als er Luft holte, klebte ihm sofort ein pelziger Geschmack am Gaumen. Er roch den süßlichen Duft von
4711.
    Als er vor dem Bett stand, sah er, dass er sich tatsächlich geirrt hatte. Der Kopf der Frau versank in dem großen Kissen, er war kaum zu erkennen. Die Augen hatte sie geschlossen, ihrer Nase entrang sich ein fast lautloses Schnarchen. Die Lippen waren zu einem seligen Lächeln verzogen.
    Er betrachtete sie eine Weile. Es war beruhigend, sie so glücklich schlafen zu sehen. In der Vergangenheit war das nicht immer so gewesen.
    Lange stand er regungslos vor dem Bett, bis ihm irgendwann seine Beine schmerzten und er das Sofa heranzog. Obwohl er sich leise verhielt, drehte sie den Kopf in seine Richtung.
    »Ich bin wieder da, Mama.«
    Unter der Bettdecke tasteten sich ihre kleinen, dünnen Finger hervor, um seinen Arm zu finden. Mit erstaunlich resoluter Stimme verkündete Käthe Maria Kalkbrenner: »Dann können wir ja endlich heimgehen.«
    »Später, Mama.«
    »Nein, nein! Wir müssen uns beeilen.« Sie richtete sich auf, so dass die Decke ihr vom Leib rutschte. Zum Vorschein kam ihr Lieblingsnachthemd, übersät mit kleinen Rosen in verschiedenen Rosatönen. »Ich hab nur ein bisschen geschlafen. Gut, mein Junge, dass du mich geweckt hast. Gleich kommt Papa nach Hause, und es gibt Abendessen.« Sie warf einen Blick auf das Nachtschränkchen. »Komisch«, murmelte sie. »Wo ist denn mein Wecker geblieben?«
    »Wir haben noch ein bisschen Zeit, Mama.«
    Erleichtert sank sie zurück aufs Kissen. Er zog ihr die Decke wieder bis ans Kinn. Minuten verstrichen, in denen sie die Augen geschlossen hielt. Wieder lächelte sie. Sie wirkte glücklich.
    Inzwischen hatte er sich an das trübe Abendlicht gewöhnt. Während seine Mutter vor sich hin dämmerte, sah er sich um. Die Sitzecke hatte früher in ihrem Wohnzimmer gestanden. Der Kleiderschrank in ihrem Schlafzimmer. Es waren nicht viele Möbel, die sie ins Pflegeheim hatte mitnehmen können. Ein Wecker hatte nicht dazugehört. Und sein Vater war vor dreizehn Jahren gestorben.
    »Kommt Ellen heute zu Kaffee und Kuchen?«
    »Heute nicht mehr. Es ist schon spät. Aber morgen.«
    »Sie muss mir unbedingt erzählen, wie sie sich fühlt.«
    »Sie fühlt sich gut.«
    »Aber spürt sie das Baby schon? Ich weiß noch genau, wie ich mit dir schwanger war. Dieses Gefühl, als du dich zum ersten Mal bewegt hast. Ich kann mich noch daran erinnern, als wäre es gestern gewesen.«
    Für seine Mutter war alles erst gestern geschehen. Mal war es seine Kindheit, in der sie ihm bei Zahnschmerzen tröstend beistand.
Du musst Rosmarinblätter kauen, mein Junge.
Mal die Jugendliebe, die dramatisch in die Brüche ging.
So ist das Leben, mein Junge.
Mal seine Hochzeit. Dann Ellens Schwangerschaft. Jessys Geburt. Nur dass sie schon lange in einem Pflegeheim lebte, konnte sie nicht verstehen. Sie hatte nie ins Heim gewollt, doch die Demenz, die mit immer schnelleren Schritten ihren Verstand zerfraß, hatte nicht mehr zugelassen, dass sie allein in ihrer Wohnung lebte. Wenn sie kochte, ließ sie die Herdplatte an, wenn sie duschte, das Badewasser laufen, und wenn sie aus der Wohnung ging, die Haustür offen. Sie verlor sich tagelang in ihrem verwirrten Geist, vergaß dabei, zu essen und zu trinken.
    Selbst im Heim narrte sie der Verstand. Wenn ein Pfleger nicht auf sie achtgab, legte sie ihr Essen in den Kleiderschrank. Sie platzierte die Schuhe auf dem kleinen Bücherregal an der Wand, hängte ihre Zeitschriften aus dem Fenster. Oder legte sich in der Dusche schlafen. Was immer sie tat, es war ein heilloses Durcheinander, manchmal auf eine erschütternde Art komisch.
    Ein Pfleger schob einen kleinen Rolltisch mit klappernden Spritzen,

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