Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
seine Wohnung. Er schleuderte die Tasche auf das Sofa und sank in die Polster. Plötzlich war da wieder diese furchtbare Frage. War das tatsächlich alles nötig gewesen?
Übelkeit überwältigte ihn nun mit aller Macht. Er sprang auf, stolperte ins Bad und schaffte es gerade noch, sich in die Kloschüssel zu übergeben. Weil er seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte, erbrach er nur bittere Galle, die das Würgen noch schlimmer machte. Verflixt, er wusste ganz genau, warum er es hatte tun müssen. Aber das machte die Angelegenheit auch nicht einfacher.
Er spie aus, wischte sich den widerwärtigen Magenschleim von den Lippen und schleppte sich zurück ins Wohnzimmer. Dort öffnete er das kleine Barfach der Schrankwand, schüttete sich einen Whiskey ins Glas und stürzte ihn in einem Zug hinab. Noch während der Alkohol durch seine Kehle rann, füllte er einen weiteren Drink nach und kippte ihn hinterher. Allmählich beruhigte sich sein Magen, und auch seine Nerven entspannten sich wieder.
Hatte er denn tatsächlich erwartet, die Sache würde ein Zuckerschlecken werden? Er hätte von vornherein wissen müssen, dass nichts von allem einfach werden würde. Nicht für ihn, mit dem es das Leben von Anfang an nicht sonderlich gut gemeint hatte.
Doch damit war es nun vorbei. Alles würde sich ändern. Nein, falsch: Alles
hatte
sich bereits geändert. Seit heute gab es keinen Weg mehr zurück. Und das war gut so. Er genehmigte sich noch einen Whiskey und prostete sich selbst zu.
Auf dich, David.
45
Während er auf Jessy wartete, saß Kalkbrenner am Küchentisch und blätterte im Terminkalender von Matthias Brodbeck. Inzwischen hatte er bis auf Januar und Februar alle Monate durch.
Die Einträge mit Judith überflog er nur, ebenso Termine wie
Zahnarzt, TÜV
oder
IFA.
Auch Notizen wie
Therapeut, Dieter Winkels
oder
Winkels
widmete er keine Aufmerksamkeit, dann fiel ihm auf, dass Brodbeck sich zu Beginn des Jahres regelmäßig mit seinem Kollegen Christian Ernst getroffen hatte, häufig zwei- oder dreimal abends unter der Woche. Offenbar hatte er ihm von allen Lehrern am nächsten gestanden. In den letzten vier Wochen vor Brodbecks Tod waren insgesamt nur noch zwei Treffen mit Christian Ernst eingetragen. Judith hatte gesagt:
Er hat die Behandlung vor einem Monat beendet
.
Auf der Liste der zu befragenden Personen notierte Kalkbrenner Christian Ernst und Dieter Winkels ganz oben.
Um das Ehepaar Mattuscheck und um L. Kolbe, der ein paar Seiten weiter noch einmal als Ludger Kolbe auftauchte, würde sich Rita morgen kümmern.
Die beiden Initialen K. und N. waren allerdings kein weiteres Mal verzeichnet. Insgesamt war also nur ein Termin mit dieser ominösen Person (sofern es denn eine Person war) in dem Timer eingetragen – ausgerechnet an Brodbecks Todestag.
Kalkbrenner beugte sich zu Bernie hinab, der unter dem Tisch lag, und erlaubte sich einige Gedanken an Judith. Überraschend verschlossen ihm Hände die Augen, und eine leise Stimme flüsterte in sein Ohr: »Na? Was macht die alte Liebe?«
Er verschluckte sich und begann zu husten. Feixend ließ Jessy von ihm ab. »Paps, du siehst ja aus, als hätte dich der Schlag getroffen!«
Genauso fühlte er sich auch. Zum Glück kam nun auch Leif in die Küche. Jessy war mit dem Jungen erst ein paar Wochen zusammen. »Hallo, Leif«, grüßte Kalkbrenner. »Alles klar?« Noch ehe der aber antworten konnte, wandte er sich auch schon wieder seiner Tochter zu. »Was sagtest du gerade?«
»Du und Mama? Was ist mit euch?«
Kalkbrenner ging zum Herd und griff zum Löffel. Sofort war Bernie bei Fuß. »Wieso fragst du?«
»Nachdem du jetzt wieder hier eingezogen bist …«
»Nur auf der Couch.«
Sie knuffte ihn in die Seite. »Paps, ich bin kein Kind mehr …«
»Ist mir bekannt.«
»… und ich wäre wirklich die Letzte, die was dagegen hätte, wenn meine Eltern wieder gemeinsam in einem Bett schlafen würden.«
Sie zog ihren Freund ins Wohnzimmer, wo Ellen bereits den Tisch gedeckt hatte, kurz nachdem sie im Wahllokal ihre Bürgerpflicht erfüllt hatten: ein Kreuz für den neuen Berliner Senat.
Dann gesellte sich Jessy wieder zu ihm. »Paps, soll ich dir was sagen?«
»Ich höre.«
»Nein, noch viel besser, ich zeig dir, wie das geht.«
Sie nahm die Garnelen mit wenigen Handgriffen aus der Pfanne und ließ sie auf einen Teller gleiten. Dabei ging sie so routiniert vor, als hätte sie schon immer in der Küche gestanden.
Plötzlich traf es
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