Gier, Kerstin
hat, soll
Gwendolyn ...« Leslie brachte es nicht über sich, diesen Satz zu Ende zu
sprechen. »... sterben«, ergänzte ich.
»Abnippeln,
über den Jordan gehen, das Leben aushauchen, den letzten Atemzug tun, dich zur
ewigen Ruhe hinlegen, entschlafen, dahinscheiden ...«, steuerte Xemerius
schläfrig bei.
»...
ermordet werden!« Leslie griff mit einer dramatischen Geste nach meiner Hand.
»Denn du wirst ja nicht von allein tot umfallen!« Sie fuhr sich durch die
Haare, die sowieso schon ganz zerzaust von ihrem Kopf abstanden. Gideon
räusperte sich, aber Leslie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ehrlich gesagt
hatte ich die ganze Zeit so ein ungutes Gefühl«, sagte sie. »Schon diese
anderen Reime sind furchtbar ... unheilverkündend. Und immer ist es der Rabe,
der Rubin, die Nummer zwölf, für den es irgendwie düster aussieht. Außerdem
passt es zu dem, was ich herausgefunden habe.« Sie ließ meine Hand los und
angelte nach ihrem (brandneuen!) Rucksack, um Anna
Karenina herauszunehmen. »Na ja, eigentlich haben es Lucy und Paul
und dein Großvater herausgefunden - und Giordano.«
»Giordano?«,
wiederholte ich verwirrt.
»Ja! Hast
du seine Aufsätze denn nicht gelesen?« Leslie blätterte in dem Buch. »Die
Wächter haben ihn in die Loge aufnehmen müssen, damit er aufhörte, seine Thesen
überall in der Welt herumzuposaunen.«
Ich
schüttelte beschämt den Kopf. Ich hatte schon nach dem ersten Schachtelsatz das
Interesse an Giordanos Geschreibsel verloren. (Mal abgesehen davon, dass es
von Giordano war - hallo?)
»Weckt
mich, wenn es interessant werden sollte«, sagte Xemerius und machte die Augen
zu. »Ich brauche ein Verdauungsschläfchen.«
»Als
Historiker ist Giordano nie wirklich ernst genommen worden, auch nicht von den
Wächtern«, mischte sich Gideon ein. »Er hat wirren Kram in dubiosen Esoterikzeitschriften
publiziert, deren Anhänger den Grafen als Aufgestiegenen, als Transformierten
bezeichnen, was immer das sein soll.«
»Das kann
ich dir genau erklären!« Leslie hielt ihm Anna
Karenina unter die Nase, als wäre es ein Beweisstück bei Gericht.
»Als Historiker ist Giordano über Inquisitionsprotokolle und Briefe aus dem 16.
Jahrhundert gestolpert. Die Quellen belegen, dass der Graf von Saint Germain
als sehr junger Mann auf einer seiner Zeitreisen eine im Kloster lebende Grafentochter
namens Elisabetta di Madrone geschwängert hat. Und bei der Gelegenheit«, sie
stockte für einen kurzen Moment, »na ja, davor oder danach vermutlich, hat er
ihr alles Mögliche über sich erzählt - vielleicht weil er noch jung und dumm
war oder auch einfach nur, weil er sich in Sicherheit gewiegt hat.«
»Und alles
Mögliche wäre?«, erkundigte ich mich.
»Er hat
sehr freizügig Informationen preisgegeben, angefangen von seiner Herkunft und
seinem richtigen Namen über seine Fähigkeiten, in der Zeit zu reisen, bis hin
zu der Behauptung, im Besitz von unschätzbaren Geheimnissen zu sein.
Geheimnisse, durch die er in der Lage sei, den Stein der Weisen herzustellen.«
Gideon
nickte, als würde er die Geschichte kennen, doch Leslie ließ sich nicht
beirren.
»Dummerweise
fanden die das im 16. Jahrhundert in Italien gar nicht so toll«, fuhr sie fort.
»Sie hielten den Grafen für einen gefährlichen Dämon und der Vater dieser
Elisabetta war außerdem so sauer darüber, was der mit seiner Tochter angestellt
hatte, dass er die florentinische Allianz gründete und sein Leben fortan der
Suche nach dem Grafen und seinesgleichen widmete, genau wie viele Generationen
nach ihm ...« Sie verstummte. »Wie bin ich jetzt dahin gekommen? Meine Güte,
mein Kopf ist so voll mit Informationen, dass ich das Gefühl habe, er könne
jeden Augenblick platzen.«
»Was zur
Hölle hat das mit Tolstoi zu tun?«, fragte Gideon und schaute Lucas'
präpariertes Buch irritiert an. »Sei nicht böse, aber bis jetzt hast du mir
noch nichts wirklich Neues erzählt.«
Leslie
warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Mir
schon«, beeilte ich mich zu sagen. »Aber du wolltest erklären, was der Graf nun
mit dem Stein der Weisen wirklich vorhat, Les!«
»Richtig.«
Leslie runzelte die Stirn. »Dafür wollte ich etwas weiter ausholen, denn es hat
natürlich eine Weile gedauert, bis die Nachfahren des Conte di Madrone den
ersten Zeitreisenden, Lancelot de Villiers, in ...«
»Du kannst
es ruhig abkürzen«, fiel Gideon ihr ins Wort. »So schrecklich viel Zeit haben
wir nämlich nicht mehr. Übermorgen treffen wir uns erneut mit dem
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