Gier, Kerstin
darauf beharrte, dass man Gideon in
Handschellen abführte), aber tatsächlich war es ganz still.
Nur Falk de
Villiers war anwesend - und meine Mum. Wie ein Häufchen Elend saß sie auf einem
Stuhl, knetete ihre Hände und sah mich aus verweinten Augen an. Wimperntusche
und Lidschattenreste bildeten ein unregelmäßiges Streifenmuster auf ihren
Wangen.
»Da seid
ihr ja«, sagte Falk. Seine Stimme und auch seine Miene waren neutral, aber ich
hielt es nicht für ausgeschlossen, dass er unter dieser Fassade vor Wut
brodelte. In seinen bernsteinfarbenen Wolfsaugen lag ein seltsamer Glanz. Gideon
neben mir straffte sich unwillkürlich und hob leicht sein Kinn, als wappne er
sich innerlich gegen eine Strafpredigt.
Rasch
griff ich nach seiner Hand. »Es ist nicht seine Schuld - ich wollte nicht
allein elapsieren«, sprudelte ich hervor. »Gideon hat den Plan nicht mit
Absicht...«
»Schon
gut, Gwendolyn.« Falk schenkte mir ein müdes Lächeln. »Im Augenblick läuft
hier so einiges nicht nach Plan.« Er rieb sich mit der Hand über die Stirn und
warf Mum einen kurzen Seitenblick zu. »Es tut mir sehr leid, dass du unser Gespräch
heute Mittag ... dass du es so erfahren musstest. Das geschah ganz bestimmt
nicht aus Absicht.« Wieder sah er Mum an. »So eine wichtige Sache sollte man
schonender beigebracht bekommen.«
Mum
schwieg und versuchte angestrengt, ihre Tränen zurückzuhalten. Gideon drückte
meine Hand.
Falk
seufzte. »Ich denke, Grace und du, ihr habt eine Menge zu besprechen. Wir
lassen euch am besten allein«, sagte er. »Vor der Tür wartet ein Adept, der
euch nach oben geleiten wird, wenn ihr so weit seid. Kommst du, Gideon?«
Widerstrebend
ließ Gideon meine Hand los und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dabei
flüsterte er mir ins Ohr: »Du schaffst das, Gwen. Und nachher reden wir über
das, was du bei dir zu Hause versteckt hast.«
Es kostete
mich all meine Selbstbeherrschung, mich nicht an ihm festzuklammern und »Bitte
bleib bei mir« zu rufen.
Stumm
wartete ich, bis er und Falk den Raum verlassen und die Tür hinter sich
geschlossen hatten. Dann drehte ich mich zu Mum um und versuchte ein Lächeln.
»Dass sie dich in ihr Allerheiligstes gelassen haben, wundert mich aber.«
Mum stand
auf - wackelig wie eine alte Frau - und lächelte schief zurück. »Sie haben mir
die Augen verbunden. Beziehungsweise der mit dem Mondgesicht. Er hatte eine
aufgeplatzte Lippe und ich glaube, deswegen hat er den Knoten extra
festgezogen. Es hat schrecklich geziept, aber ich habe mich nicht getraut, mich
zu beschweren.«
»Das kenne
ich.« Mr Marleys aufgeplatzte Lippe tat mir nur bedingt leid. »Mum ...«
»Ich weiß,
du hasst mich jetzt.« Mum ließ mich nicht ausreden. »Und ich verstehe dich
absolut.«
»Mum, ich
...«
»Es tut
mir alles so furchtbar leid! Ich hätte es niemals so weit kommen lassen
dürfen.« Sie machte einen Schritt auf mich zu und streckte die Arme nach mir
aus, um sie sofort wieder hilflos fallen zu lassen. »Ich hatte immer solche
Angst vor diesem Tag! Ich wusste ja, er würde irgendwann kommen, und je älter
du wurdest, desto mehr habe ich mich davor gefürchtet. Dein Großvater...« Sie
stockte, dann holte sie tief Luft und fuhr fort: »Mein Vater und ich hatten
vor, es dir gemeinsam zu sagen, wenn du alt genug wärst, die Wahrheit zu
verstehen und zu verkraften.«
»Lucas
wusste also davon?«
»Natürlich!
Er hat Lucy und Paul bei uns in Durham versteckt und es war auch seine Idee,
dass ich allen eine Schwangerschaft vorspielen sollte, um das Baby - also dich
- im Zweifel als meins ausgeben zu können. Lucy ist unter meinem Namen in
Durham zu den Vorsorgeuntersuchungen gegangen - sie und Paul haben fast vier
Monate bei uns gelebt, während Dad damit beschäftigt war, falsche Spuren durch
halb Europa zu legen. Es war im Grunde das perfekte Versteck. Für meine
Schwangerschaft hat sich niemand interessiert. Der Geburtstermin sollte im
Dezember sein und damit warst du für die Wächter und die Familie völlig unwichtig.«
Mum sah an mir vorbei auf den Wandteppich und ihr Blick wurde glasig. »Bis zum
Schluss haben wir gehofft, dass es nicht nötig sein würde, Lucy und Paul mit
dem Chronografen in die Vergangenheit springen zu lassen. Aber einer der
Privatdetektive der Wächter hatte unsere Wohnung ins Visier genommen ...« Sie
schauderte bei der Erinnerung. »Mein Vater konnte uns gerade noch rechtzeitig
warnen. Lucy und Paul hatten keine andere Wahl - sie mussten fliehen,
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