Gier, Kerstin
Menschen, denen wir unterwegs begegneten,
besaßen einen Regenschirm und sahen uns mitleidig an.
»Wie gut,
dass wir uns keine Mühe mit authentischen Frisuren gegeben haben«, sagte ich,
als wir vor Lady Tilneys Haustür standen. Ich strich mir nervös über das Haar,
das mir an der Kopfhaut klebte. Meine Zähne klapperten immer noch aufeinander.
Gideon
läutete die Türglocke und drückte meine Hand fester.
»Irgendwie
habe ich ein mulmiges Gefühl«, flüsterte ich. »Noch haben wir Zeit, einfach
wieder zu verschwinden. Vielleicht wäre es am besten, erst in aller Ruhe
darüber nachzudenken, in welcher Reihenfolge wir die Fragen ...«
»Schschscht«,
machte Gideon. »Alles ist gut, Gwenny. Ich bin bei dir.«
»Ja, du
bist bei mir«, sagte ich und wiederholte gleich noch einmal, wie ein
beruhigendes Mantra. »Du bist bei mir du bist bei mir du bist bei mir.«
Wie beim
letzten Mal öffnete uns der Butler mit den weißen Handschuhen. Er musterte uns
recht feindselig.
»Mr
Millhouse, nicht wahr?« Gideon lächelte verbindlich.
»Wenn Sie so freundlich wären,
Lady Tilney unseren Besuch anzukündigen. Miss Gwendolyn Shepherd und Gideon de
Villiers.«
Der Butler
zögerte einen Moment. »Warten Sie hier«, sagte er dann und schloss die Tür vor
unserer Nase.
»Also, so
etwas würde sich Mr Bernhard niemals erlauben«, sagte ich empört. »Na ja,
wahrscheinlich denkt er, du hast wieder eine Pistole dabei und willst seiner
Arbeitgeberin Blut abzapfen. Er kann ja nicht wissen, dass Lady Lavinia dir die
Pistole geklaut hat, wobei ich mich immer noch frage, wie sie das angestellt
hat. Ich meine, was zur Hölle hat sie gemacht, was dich so abgelenkt hat?
Sollte ich ihr jemals noch mal über den Weg laufen, werde ich sie genau das
fragen, obwohl ich ehrlich gesagt gar nicht sicher bin, ob ich es überhaupt
wissen will. Oh und ich rede wieder wie ein Wasserfall, das ist immer so, wenn
ich aufgeregt bin, ich glaube nicht, dass ich es schaffe, ihnen
gegenüberzutreten, Gideon. Und ich bekomme keine Luft mehr, aber das kann auch
daran liegen, dass ich einfach nicht atme, was auch nichts weiter macht, weil
ich ja unsterblich bin.« An dieser Stelle überschlug sich meine Stimme
hysterisch, aber ich fuhr ohne Pause fort. »Lass uns lieber einen Schritt
zurückgehen, denn wenn die Tür das nächste Mal aufgeht, haut dieser Millhouse
dir vielleicht in die ...«
Die Tür
öffnete sich wieder.
»...
Fresse«, murmelte ich trotzdem noch schnell.
Der
bullige Butler winkte uns herein. »Lady Tilney erwartet Sie oben im kleinen
Salon«, sagte er steif. »Sobald ich Sie auf Waffen untersucht habe.«
»Wenn es
sein muss!« Gideon breitete bereitwillig seine Arme aus und ließ sich von
Millhouse abklopfen.
»In
Ordnung. Sie können hinaufgehen«, sagte der Butler schließlich.
»Und was
ist mit mir?«, fragte ich verdutzt.
»Du bist
eine Dame - die tragen keine Waffen.« Gideon lächelte mich an, nahm meine Hand
und zog mich die Treppe hinauf.
»Wie
leichtsinnig!« Ich warf einen Blick auf Millhouse, der uns mit ein paar
Schritten Abstand folgte. »Nur weil ich eine Frau bin, hat er keine Angst vor
mir? Der sollte mal Tomb Raider sehen! Ich
könnte eine Atombombe unter dem Kleid tragen und in jedem BH-Körbchen eine
Handgranate. Ich finde dieses Benehmen tendenziell frauenfeindlich.« Ich hätte
noch weitergeredet, und zwar ohne Punkt und Komma bis ungefähr zum
Sonnenuntergang, aber oben an der Treppe erwartete uns Lady Tilney, gerade und
schlank wie eine Kerze. Sie war eine ausgesprochen schöne Frau, daran konnte
auch ihr eisiger Blick nichts ändern. Ich wollte sie eigentlich spontan
anlächeln, aber ich zwang meine Mundwinkel, auf halbem Weg wieder umzukehren.
Im Jahr 1912 war Lady Tilney viel Furcht einflößender als später, wenn sie das
Häkeln von Schweinen als Hobby entdecken würde, und mir wurde unangenehm
bewusst, dass nicht nur unsere Frisuren herzlich wenig präsentabel waren,
sondern auch mein Kleid an mir herunterhing wie ein nasser Sack. Unwillkürlich
fragte ich mich, ob der Föhn bereits erfunden war.
»Sie schon
wieder«, sagte Lady Tilney zu Gideon, mit einer Stimme, die genauso kühl war
wie ihr Blick. Nur Lady Arista konnte diesen Ton noch toppen. »Sie sind
wirklich hartnäckig. Bei Ihrem letzten Besuch dürften Sie doch begriffen haben,
dass ich Ihnen mein Blut nicht geben werde.«
»Wir sind
nicht wegen Ihres Blutes hier, Lady Tilney«, erwiderte Gideon. »Das habe ich
längst...« Er räusperte
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