Gier, Kerstin
Ist das zu fassen? Es besteht die Gefahr, dass
sie den Schock ihres Lebens bekommt, wenn du plötzlich aus dem Nichts erscheinst.
Wollen wir das wirklich riskieren?«
»Sie ist
ja nur mit einer Häkelnadel bewaffnet und die sind oben abgerundet, wenn ich
mich recht entsinne.« Ich beugte mich über den Chronografen. »Also, zuerst das
Jahr. 1852, da fange ich mit dem M an, richtig? MDCCCLII. Und der Monat Februar
ist nach dem keltischen Kalender die Nummer drei, nein, vier ...«
»Was
machst du denn da? Erst müssen wir deine Wunde verbinden und noch einmal in
Ruhe über alles nachdenken!«
»Dafür
haben wir keine Zeit«, sagte ich. »Der Tag ... das war dieser Hebel hier, nicht
wahr?«
Lucas
blickte mir ängstlich über die Schulter. »Nicht so schnell! Das muss alles
haargenau stimmen, sonst ... sonst...« Er sah schon wieder so aus, als müsse er
sich übergeben. »Und du darfst den Chronografen niemals festhalten, sonst würdest
du ihn mit in die Vergangenheit nehmen. Und dann könntest du nicht mehr
zurück!«
»So wie
Lucy und Paul«, flüsterte ich.
»Wir
wählen sicherheitshalber ein Zeitfenster von nur drei Minuten. Nimm 12:30 Uhr
bis 12:33 Uhr, dann sitzt sie wenigstens schon friedlich da und häkelt ihre
Schweinchen. Sollte sie schlafen, weck sie bloß nicht, sonst bekommt sie einen
Herzinfarkt...«
»Aber
stünde es dann nicht in den Annalen?«, unterbrach ich ihn. »Lady Tilney hat
einen sehr robusten Eindruck auf mich gemacht, sie fällt schon nicht um.«
Lucas
schleppte den Chronografen zum Fenster und stellte ihn hinter dem Vorhang ab.
»Hier können wir sicher sein, dass keine Möbel stehen. Ja, du brauchst gar
nicht die Augen zu verdrehen. Timothy de Villiers ist einmal so unglücklich auf
einem Tisch gelandet, dass er sich ein Bein gebrochen hat!«
»Und wenn
Lady Tilney gerade genau hier steht und träumerisch in die Nacht hinausschaut?
Ach, jetzt guck nicht so, das war nur ein Scherz, Grandpa.« Ich schob ihn sanft
zur Seite, kniete mich vor dem Chronografen auf den Boden und öffnete die
Klappe direkt unter dem Rubin. Sie war gerade groß genug für meinen Finger.
»Warte
noch. Deine Wunde!«
»Die
können wir auch noch in drei Minuten verbinden. Wir sehen uns dann«, sagte ich,
atmete tief durch und drückte meine Fingerkuppe fest auf die Nadel.
Das
altbekannte Schwindelgefühl erfasste mich, und während das rote Licht
aufleuchtete und Lucas »Aber ich wollte doch noch...«sagte, verschwamm alles
vor meinen Augen.
Aus
den Annalen der Wächter 18. Dezember 1745
Während
die Jakobitenarmee angeblich schon vor Derby steht und weiter auf London
vorrückt, haben wir unser neues Hauptquartier bezogen und hoffen, dass sich die
Meldungen von 10.000 französischen Soldaten, die sich the
young pretender Bonnie Prince
Charlie angeschlossen haben, nicht bewahrheiten werden und wir ein friedliches
Weihnachten in der Stadt feiern können. Man kann sich keine passenderen
Räumlichkeiten für uns Wächter vorstellen als die altehrwürdigen Häuser hier in
Temple, denn auch die Tempelritter waren schließlich Wahrer großer Geheimnisse,
die große Temple-Church liegt nicht nur in Sichtweite, ihre Katakomben sind
auch mit den unseren verbunden. Offiziell werden wir von hier aus unseren
Geschäften nachgehen, aber es wird auch Wohnmöglichkeiten für Adepten, Novizen
und Gäste von außerhalb und natürlich für die Diener geben, außerdem einige
Laboratorien zu alchemistischen Zwecken. Wir sind froh, dass es Lord Alastair
nicht gelungen ist, das gute Verhältnis des Grafen zum Prince of Wales durch
seine Verleumdungen zu stören (siehe Bericht vom 2. Dezember), und wir dank der
Protektion Seiner Majestät
diesen Gebäudekomplex erwerben konnten. Im Drachensaal findet heute die
feierliche Übergabe der Geheimdokumente aus dem Besitz des Grafen an die
Mitglieder des Inneren Kreises statt.
Bericht:
Sir Oliver Newton, Innerer Kreis
4
Ich
brauchte ein paar Sekunden, um mich an die anderen Lichtverhältnisse zu
gewöhnen. Nur eine Petroleumlampe auf dem Tisch beleuchtete den Saal. In ihrem
warmen, dürftigen Schein erkannte ich ein gemütliches Stillleben, bestehend
aus einem Korb, einigen Knäueln rosa Wolle, einer Teekanne mit einer Filzhülle
und einer Tasse mit Rosen-Dekor. Außerdem Lady Tilney, die häkelnd auf einem Stuhl
saß und bei meinem Anblick die Hände in den Schoß sinken ließ. Sie war deutlich
älter als bei unserem letzten Treffen, die roten Haare waren von
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