Gier, Kerstin
ist selbstverständlich ebenfalls abgeschlossen«, sagte Lucas und
drängte mich die Treppe hinunter.
»Aber vor
Diebstahl fürchten wir uns eigentlich nicht. Im Augenblick gibt es ja nicht
mal Zeitreisende bei uns, die ihn nutzen können. Aufregend war es bei uns nur,
als Lucy und Paul zu uns elapsiert sind, aber das ist ja nun auch wieder Jahre
her. Im Augenblick ist der Chronograf daher nicht gerade im Zentrum der
Aufmerksamkeit der Wächter. Unser Glück, würde ich mal sagen.«
Das
Gebäude schien tatsächlich menschenleer zu sein, obwohl Lucas mir flüsternd
versicherte, dass es niemals ganz verlassen sei. Durch die Fenster sah ich
sehnsüchtig hinaus in den lauen Sommerabend. Wie schade, dass ich nicht losziehen
und das Jahr 1956 ein bisschen genauer kennenlernen durfte. Lucas bemerkte
meinen Blick und sagte lächelnd: »Glaub mir, ich würde auch viel lieber mit
dir irgendwo gemütlich eine Zigarette rauchen - aber wir haben zu tun.«
»Das mit
dem Rauchen solltest du besser lassen, Grandpa. Es ist so ungesund. Und bitte -
rasier dir den Schnurrbart ab. Er steht dir kein bisschen.«
»Psssst«,
flüsterte Lucas. »Wenn jemand hört, dass du mich Grandpa nennst, kommen wir
wirklich in Erklärungsnot.«
Aber wir
liefen niemandem über den Weg, und als wir ein paar Minuten später den
Drachensaal betraten, konnten wir hinter den Gärten und Mauern immer noch die
Abendsonne auf der Themse funkeln sehen. Auch in dieser Zeit war der
Drachensaal mit seinen majestätischen Proportionen, den tiefen Fenstern und den
kunstvollen, bemalten Wandschnitzereien überwältigend schön anzusehen und ich
legte wie immer den Kopf in den Nacken, um den riesigen geschnitzten Drachen zu
bewundern, der sich an der Decke zwischen den gewaltigen Kronleuchtern
entlangschlängelte und aussah, als wolle er jeden Augenblick losfliegen.
Lucas
verriegelte die Tür. Er wirkte viel nervöser als ich, seine Hände zitterten,
als er den Chronografen aus seinem Schrein holte und auf den Tisch in der Mitte
des Saales stellte.
»Als ich
das damals mit Lucy und Paul gemacht habe, war es ein riesengroßes Abenteuer.
Wir hatten so viel Spaß«, sagte er.
Ich dachte
an Lucy und Paul und nickte. Ich hatte sie zwar nur einmal bei Lady Tilney
getroffen, aber ich konnte mir vorstellen, was mein Großvater meinte.
Dummerweise musste ich im gleichen Atemzug auch an Gideon denken. War sein
Spaß auf unseren Abenteuern auch gespielt gewesen? Oder nur die Sache mit der
Liebe?
Schnell
rief ich mir das japanische Gemüsemesser ins Gedächtnis und das, was ich
gleich damit tun würde. Und siehe da, die Ablenkung funktionierte sogar.
Immerhin brach ich nicht in Tränen aus.
Mein
Großvater wischte sich die Handflächen an der Hose ab. »Jetzt fühle ich mich
langsam zu alt für solche Abenteuer«, sagte er.
Mein Blick
wanderte zum Chronografen. Für mich sah er exakt genauso aus wie der
Chronograf, mit dem ich hergereist war, ein kompliziertes Gebilde voller
Klappen, Hebel, Schublädchen, Zahnräder und Knöpfe, über und über mit Miniaturen
verziert.
»Du darfst
ruhig widersprechen«, sagte Lucas ein bisschen gekränkt. »So was wie: Aber du
bist doch viel zu jung, um dich alt zu fühlen!«
»Oh. Ja,
natürlich bist du das. Allerdings macht der Schnurrbart dich Jahrzehnte älter.«
»Stattlich
und seriös, sagt Arista.«
Ich
begnügte mich damit, vielsagend meine Augenbrauen in die Höhe zu ziehen, und
mein junger Großvater beugte sich grummelnd über den Chronografen. »Gib gut
acht: Mit diesen zehn Rädchen hier wird das Jahr eingestellt. Und bevor du
fragst, warum man dafür so viele Felder braucht: Es wird in römischen Ziffern
geschrieben - ich hoffe, die beherrschst du.«
»Ich
glaube schon.« Ich nahm Ringbuchblock und Stift aus meiner Schultasche. Das
würde ich mir unmöglich alles merken können, ohne mitzuschreiben.
»Und damit
arretierst du den Monat.« Lucas zeigte auf ein weiteres Zahnrad. »Aber Achtung,
aus irgendeinem Grund geht man hierbei - und nur hierbei! - nach einem alten
keltischen Kalendersystem vor: Die Eins bezeichnet den November, der Oktober
trägt demnach die Nummer Zwölf.«
Ich rollte
mit den Augen. Typisch Wächter! Ich vermutete schon lange, dass sie Einfaches
nur deswegen möglichst kompliziert verschlüsselten, um ihre eigene Wichtigkeit
zu betonen. Aber ich biss die Zähne zusammen und nach etwa zwanzig Minuten
merkte ich, dass das Ganze doch kein Hexenwerk war, wenn man das System mal
durchschaut
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