Gier, Kerstin
Gegenteil einer Friedenspfeife gab? »Sie meint, du bist irgendwie in
den Besitz des gestohlenen Chronografen gelangt und deine Geschwister, deine
Großtante und sogar euer Butler helfen dir, ihn zu verstecken.«
Ich
schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber
Charlotte hat offenbar zu viel Fantasie. Da muss man bloß eine alte Truhe
durchs Haus tragen, schon spinnt sie total rum.«
»Was war
denn in der Truhe?«, fragte er, nicht besonders interessiert. Meine Güte, wie
durchschaubar!
»Nichts!
Wir benutzen sie als Kartentisch, wenn wir pokern.« Ich fand die Idee selber
so gut, dass ich mir ein Grinsen nur schwer verkneifen konnte.
»Arizona
Hold'em?«, erkundigte sich Gideon, jetzt aufmerksamer.
Haha. »Texas
Hold'em«, sagte ich. Als ob er mich mit so einem platten Trick aufs Glatteis
führen könnte! Leslies Vater hatte uns Pokern beigebracht, als wir zwölf Jahre
alt gewesen waren. Er war nämlich der Ansicht, dass Mädchen unbedingt pokern
können sollten - warum, hatte er uns nie verraten. Dank ihm kannten wir
jedenfalls alle Tricks und waren Weltmeister im Bluffen. Leslie kratzte sich
zwar bis heute immer an der Nase, wenn sie ein gutes Blatt hatte, aber das
wusste ja nur ich. »Auch Omaha, aber seltener. Weißt du«, ich beugte mich
vertrauensvoll vor, »Glücksspiele sind bei uns zu Hause verboten - meine
Großmutter hat da ein paar strenge Regeln aufgestellt. Eigentlich haben wir
auch nur aus Protest und purer Bockigkeit mit dem Spielen angefangen, Tante Maddy,
Mr Bernhard, Nick und ich. Aber dann hat es uns immer mehr Spaß gemacht.«
Gideon
hatte eine Augenbraue nach oben gezogen. Er sah irgendwie beeindruckt aus. Ich
konnte es ihm nicht verdenken.
»Vielleicht
hat Lady Arista recht und das Spiel ist aller Laster Anfang«, fuhr ich fort.
Ich war jetzt richtig in meinem Element. »Zuerst haben wir nur um
Zitronenbonbons gespielt, aber mittlerweile sind die Einsätze höher geworden.
Mein Bruder hat letzte Woche sein ganzes Taschengeld verspielt. Wenn das Lady
Arista wüsste!« Ich beugte mich noch ein bisschen weiter vor und sah Gideon
tief in die Augen. »Also sag das bloß nicht Charlotte, die würde es nämlich
sofort petzen. Dann soll sie doch lieber Geschichten von geklauten
Chronografen erfinden!« Äußerst zufrieden mit mir selber setzte ich mich wieder
gerade hin.
Gideon sah
immer noch beeindruckt aus. Er betrachtete mich eine Weile schweigend, dann
streckte er urplötzlich die Hand aus und streichelte mir über das Haar. Sofort
war es um meine Fassung geschehen.
»Lass
das!« Er versuchte es wirklich mit allen Tricks! Mistkerl. »Was willst du
überhaupt hier? Ich brauche keine Gesellschaft!« Es klang leider viel weniger
giftig als beabsichtigt, eher ein bisschen kläglich. »Musst du nicht auf
geheimen Missionen unterwegs sein und Leuten Blut abzapfen?«
»Du meinst
die Operation Pumphose gestern Abend?« Er hatte das
Streicheln eingestellt, aber nun nahm er eine meiner Haarsträhnen zwischen
seine Finger und spielte damit. »Die ist erledigt. Elaine Burghleys Blut befindet
sich im Chronografen.« Für zwei Sekunden starrte er an mir vorbei ins Leere
und sah traurig aus. Dann hatte er sich wieder im Griff. »Fehlen noch die
störrische Lady Tilney, Lucy und Paul. Aber da wir jetzt wissen, was Lucys und
Pauls Basiszeit ist und unter welchen Namen sie gelebt haben, ist das nur noch
eine Formsache. Um Lady Tilney kümmere ich mich übrigens gleich morgen früh.«
»Ich
dachte, du hättest in der Zwischenzeit Zweifel bekommen, ob das alles so seine
Richtigkeit hat«, sagte ich und befreite mein Haar aus seiner Hand. »Was, wenn
Lucy und Paul recht haben und der Blutkreis niemals geschlossen werden darf? Du
hast doch selbst behauptet, dass die Möglichkeit besteht.«
»Richtig.
Aber ich habe nicht vor, das den Wächtern auf die Nase zu binden. Du bist die
Einzige, der ich davon erzählt habe.«
Ah, welch
raffinierter psychologischer Schachzug. Du bist die Einzige, der ich
vertraue.
Aber ich
konnte auch raffiniert sein, wenn ich wollte. (Ich erinnere nur an die
Poker-Geschichte!) »Lucy und Paul sagten, dass man dem Grafen nicht trauen
kann. Dass er etwas Böses im Schilde führt. Glaubst du das jetzt auch?«
Gideon
schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war plötzlich ernst und angespannt. »Nein.
Ich glaube nicht, dass er böse ist. Ich glaube nur ...« Er zögerte. »Ich
glaube, dass er das Wohl eines Einzelnen dem Allgemeinwohl unterordnet.«
»Auch
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