Gier
Mosaik«, sagte Hjelm, um auch etwas beizutragen.
»Ich bitte Sie«, entgegnete Nodham. »Es gibt natürlich ähnlich geartete Mosaike auf diversen römischen FuÃböden. Aber nicht mit diesem Gesicht.«
»Ach, das Gesicht.«
»Ja, das Gesicht hat, offen gestanden, etwas in mir ausgelöst. Dieses unangenehm aufgequollene Gesicht. Nahezu ohne Gesichtszüge. Es lieà mich an eine Skulptur denken. Oder an ein Relief. Und somit in erster Linie an römische Sarkophage.«
»Sarkophage. Also Särge?«
»Ja, Steinsärge. Ursprünglich nannte man sie Sarkophagos lithos. Steine, die Fleisch fressen. Schlicht und einfach Särge für die Toten. Aber mit römischen Sarkophagen ist es nicht so einfach. Sie sind in der Regel vollkommen überladen mit Figuren und Charakteren aus der Mythologie, rundherum mit Reliefs, Friesen und Fresken bedeckt, deren Figuren ineinander verschlungen sind oder auch ineinander übergehen. Man denke beispielsweise nur an den Anfang des gigantischen Romans Die Ãsthetik des Widerstands von Peter Weiss, in dem die Hauptperson vor dem riesigen Fries im Pergamonmuseum in Berlin steht: âºRings um uns erhoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstenen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden FuÃ, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung.â¹Â«
»Ich hoffe, der Herr Professor hat den Text abgelesen ...«
»Ansonsten hätte es Ihnen ziemlich imponiert, nicht wahr?« Nodham lachte. »Ja, ich habe es direkt vom Buch abgelesen.«
»Und ich nehme an, dass uns das irgendwohin führen soll?«, fragte Hjelm.
»Das wird es in der Tat«, antwortete Nodham. »Es führt uns zum Sarcophagus Maconiana Severiana . Ich meine zu hören, dass Sie im Augenblick in einem Auto sitzen. Hat der Kommissar in besagtem Auto vielleicht Mail-Empfang?«
»Ich bin zwar kein Kommissar, aber ich habe Mail-Empfang. Sarcophagus Maconiana Severiana ?«
»Maconiana Severiana war die geliebte Tochter eines römischen Senators, der ungefähr zweihundert Jahre nach Christus gelebt hat«, erklärte Nodham. »Als sie einen viel zu frühen Tod starb, lieà Marcus Sempronius Faustinianus einen Sarkophag herstellen, in dem er seine kleine Maconiana bestattete. Er wollte offenbar, dass der Sarkophag an die Lebensfreude erinnerte, die Maconiana stets ausgestrahlt hatte. Er wählte das lebensbejahendste Motiv aus, das er kannte, nämlich Bacchus. Was wir auf der Vorderseite des Sarkophags sehen, ist eine bacchische Szene mit Tanz und Musik, Feier und Glanz. Ein Bacchanal. Dort herrscht ein ebenso groÃes Gewimmel, wie Peter Weiss es beschreibt, allerdings ohne irgendwelche Kampfszenen, sondern durch und durch jubelnd und voll Lebensfreude. Abgesehen von einem Detail. Und jetzt sollte der Kommissar gerade eine Mail empfangen haben.«
»Einen Augenblick, bitte«, sagte Paul Hjelm und scrollte die Mail auf seinem Display ein wenig herunter. SchlieÃlich hatte er ein Bild vor sich. Die Fotografie eines tatsächlich vor Menschen nur so wimmelnden Sarkophags. Ein Relief mit tanzenden Figuren, die auf dem winzigen Display nur schwer zu erkennen waren.
»Ja«, sagte er. »Jetzt sehe ich es.«
»Wie Sie sicher erkennen können, sind all die kleinen Gesichter extrem sorgfältig in den Stein gemeiÃelt worden«, erklärte Professor Nodham. »Alle auÃer eines. Unten rechts auf dem Sarkophag. Können Sie es heranzoomen?«
»Ich versuche es«, antwortete Hjelm.
»Dann sehen Sie, dass sich dort unten rechts auf dem Bild eine halb liegende Figur befindet. Es handelt sich unverkennbar um eine Frau, die in einer entspannten Position bequem zurückgelehnt liegt, den rechten Arm hinter dem Kopf, während der angewinkelte linke Arm auf etwas gestützt ist, das wahrscheinlich einen Stein darstellen soll. Ein dünner Baumstamm neigt sich von rechts über sie und rahmt so ihren Körper quasi ein. Die Frau ist nackt, aber ein Stoffstück bedeckt ihre Scham und ihre
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