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Gier

Gier

Titel: Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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ging sie zur Toilette. Sie schloss sich ein und drehte den Wasserhahn ganz auf. Während das Wasser aus dem Hahn schoss, betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel. Drei kräftige Kratzspuren verliefen wie ein Gatter in Längsrichtung über ihre Stirn, während eine weitere Schramme direkt unter ihrem linken Auge lag. Aus allen vier Wunden sickerte Blut.
    So dicht am Auge ...
    Sie hielt sich das blutige Gesicht. Musterte ihren eigenen Blick. Sie wusste, dass sie die Wunden so schnell wie möglich desinfizieren musste, aber sie konnte nicht aufhören, ihre Augen zu betrachten. Sie strahlten etwas unsäglich Boshaftes aus. Eine wortlose Erkenntnis. In ihrer Seele hatte sich ein schwarzer Klumpen gebildet, dem sie plötzlich direkt ins Auge sah.
    Im selben Augenblick, als sie völlig haltlos zu weinen begann, hörte sie Wictoria Stiernmarcks forsche, aber japsende Stimme aus dem Flur: »Was in aller Welt ist denn hier los?«

Enthüllungen
Den Haag, 8. April
    Er sah regelrecht lebendig aus. Im Prinzip genau so wie zu dem Zeitpunkt, als er die Straße überquert hatte. Abzüglich aller Ängste und seiner widersinnigen Zielstrebigkeit. Es schien, als hätte er seinen Frieden gefunden. So hätte er ausgesehen, wenn die Welt ein friedlicherer Ort zum Leben gewesen wäre.
    Arto Söderstedt spürte, wie der eiskalte Februarwind an seinem Rückgrat hinauf- und wieder herunterzog. Als Gegenmaßnahme fixierte er das chinesische Gesicht und war überrascht, wie jung Zhang Sang war.
    Â»Aber eben war er doch noch völlig unbekannt, oder?«, fragte eine Stimme hinter seinem Rücken.
    Söderstedt drehte sich um und sah zu Jutta Beyer hoch, die über seine Schulter hinweg auf dem Bildschirm mitlas. Wie schnell sie sich verändert hatte. Sie würde noch lange von ihrer Eingebung in Bezug auf die Umweltgifte zehren. Diese erstaunliche Gedankenschärfe trotz ihrer beständigen Unsicherheit. Du wirkst so viel entschlossener, dachte er, wenn die Unsicherheit wie Rost von dir abblättert.
    Â»Noch ist Zhang Sang ein unbekanntes Opfer«, antwortete er und deutete auf den Bildschirm, der das Foto ohne Namenszuordnung zeigte.
    Â»Er ist also immer noch nicht identifiziert?«, fragte Jutta Beyer weiter.
    Â»Leider nein. Scotland Yard kommt ihm nicht bei. Sie haben den Fall inzwischen fast ad acta gelegt. Keine DNA, keine Fingerabdrücke. Und sie haben auch nicht, wie ich gehofft hatte, irgendwo in London ein verlassenes Hotelzimmer mit Zhang Sangs Pass gefunden. Nichts Identifizierbares in den Taschen oder am Körper. Lediglich ein paar zusammengeknüllte Pfundnoten. Aber eine spezifische Sache gibt es ...«
    Â»Die da wäre?«, fragte Jutta Beyer ungeduldig.
    Â»Er schwitzte«, entgegnete Arto Söderstedt.
    Â»Schwitzte?«
    Â»Ziemlich stark sogar. Seine Kleidung war völlig durchnässt.«
    Â»Nervosität?«
    Â»Ganz sicher. Ich habe nämlich eine Hypothese zum Ablauf des Geschehens.«
    Die Tatsache, dass Beyer ihn leicht skeptisch von der Seite anblickte, hielt Söderstedt nicht davon ab, fortzufahren: »Warum befand sich Zhang Sang eigentlich vor Ort? Was war so wichtig, dass er es jemandem mitteilen musste? Und vor allem: wem?«
    Â»Offenbar dir ...«
    Â»Ganz sicher nicht«, entgegnete Söderstedt. »Ich war nur eine Art Ersatz.«
    Â»Aha, für ...«
    Â»Ganz genau. Er war dort, um Barack Obama etwas zu sagen, aber Obama fuhr vorbei. Und dann hat er sich mich ausgeguckt. Klar, dass er nervös war.«
    Â»Dürfen wir das denn wirklich als eine wohlbegründete These ansehen?«, fragte Jutta Beyer mit gerunzelter Stirn.
    Â»In keiner Weise«, gab Söderstedt zu. »Aber die einzige Erklärung für Zhang Sangs unglaubliche Zielstrebigkeit ist, dass er, wie man in seinem Blick lesen konnte, ein extrem wichtiges Anliegen hatte; es war so wichtig, dass er mit dem Präsidenten der USA reden wollte. Außerdem war über Twitter das Gerücht aufgekommen, dass Obama genau an dieser Stelle anhalten würde.«
    Â»Weißt du denn, ob Zhang Sang überhaupt Englisch lesen konnte?«
    Â»Wenn er die Absicht hatte, mit Obama zu sprechen, dürfte er des Englischen wohl mächtig gewesen sein«, antwortete Söderstedt, ohne ganz von der Logik seiner Aussage überzeugt zu sein.
    Â»Und dennoch hat er mit dir Chinesisch gesprochen?«, sagte Beyer lächelnd.

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