Gift
hinunter,
was sie im Mund hatte, und dann mussten beide lachen, bis ihnen die
Tränen kamen.
12
UNERWARTETE LÖSUNGEN
A n dem Sonntag nach Samuels Ankunft in Paris
kam Punkt vierzehn Uhr Hector Somolian auf seinen Krücken die Treppe zu
Lucines Wohnung heraufgehumpelt. Begleitet wurde er von einer
armenischen Frau mit einem Kopftuch, die Samuel bereits von seinem
ersten Besuch bei Somolian kannte. Sonntag war der einzige Tag der
Woche, an dem sich der alte Mann mit Samuel treffen konnte, denn an den
übrigen Wochentagen arbeiteten er und seine Familie immer bis
spätabends. Samuel, dem wie schon bei seiner ersten Parisreise der
Zeitunterschied zu schaffen machte, störte das jedoch nicht, weil er
sich auf diese Weise noch etwas regenerieren konnte.
Lucines Mutter Sasiska, die diesmal ein hellrotes Seidenkleid
und ein weißes Kopftuch trug, nahm Hector und die Frau an der Tür in
Empfang. Sie lehnte die Krücken des Alten gegen die Armlehne des Sofas,
forderte ihre Gäste auf, in zwei Sesseln am Kohlebecken Platz zu
nehmen, schenkte ihnen Tee ein und unterhielt sich erst einmal mit
ihnen, um ihnen ihre Anspannung zu nehmen. Erst nach etwa einer
Viertelstunde wurden auch Samuel und Lucine ins Zimmer gebeten. Lucine
stellte Samuel dem alten Mann noch einmal vor und erklärte ihm, dass
ihr amerikanischer Freund ihm ein paar weitere Fragen stellen wolle,
falls er damit einverstanden sei.
Samuel war schon am Tag zuvor in Lucines Wohnung gewesen,
hatte mit ihrer Hilfe ein Tonbandgerät hinter dem Sofa aufgestellt und
eine Kabelfernbedienung zum Ein- und Ausschalten des Geräts zu dem
Sessel verlegt, in den er sich bei dem Treffen mit Hector Somolian
setzen wollte. Das Zimmer wirkte freundlicher und heller als bei den
Besuchen während seines ersten Parisaufenthalts, weil das Wetter besser
war und die Sonne schien. Er hoffte inständig, das würde auch die
Stimmung desalten Mannes heben und ihn um einiges
gesprächiger machen.
Bevor er die Unterhaltung begann, schaltete Samuel mit der
Fernbedienung das Tonbandgerät ein. Zunächst erklärte er Hector, dass
sie im Fall Hagopian verschiedene neue Erkenntnisse gewonnen hätten,
weshalb er noch einmal mit ihm sprechen müsse.
»Was ich als Allererstes wissen möchte, ist Ihr richtiger
Name«, begann er, von neuem erstaunt, dass der zierliche, aber kräftige
und agile Mann tatsächlich schon neunzig Jahre alt war.
»Ja, Mademoiselle Lucine hat mir bereits gesagt, dass Sie mich
das fragen würden«, antwortete der alte Mann, »und ich muss gestehen,
dass ich über diesen Punkt lange nachgedacht habe. Wahrscheinlich hat
sie recht, wenn sie meint, dass mir diese Leute, nachdem sie mich so
lange in Ruhe gelassen haben, jetzt nichts mehr tun werden. Der einzige
Grund, warum sie mich in Ruhe gelassen haben, ist allerdings, dass sie
nicht wussten, dass ich noch am Leben bin. Außerdem geht es hier nicht
nur um mich allein, sondern auch um meine Familie, und sie möchte ich
auf gar keinen Fall in Gefahr bringen.«
»Solange ich nicht weiß , wer Sie sind,
kann ich Ihnen nicht sagen, ob Ihnen noch von jemandem Gefahr droht«,
erwiderte Samuel.
Der alte Mann sah die drei Frauen hilfesuchend an und rang
seine schwieligen Hände. »Also gut, ich werde es Ihnen sagen, aber nur,
weil sowieso keiner meiner Verwandten mehr unseren alten Namen trägt
und weil ich inzwischen in einem Alter bin, in dem ich mir keine Sorgen
mehr zu machen brauche, was aus mir werden könnte. Mein richtiger Name
ist Albert Gabedian. Die Gabedians waren seit Generationen als Diener
und Hausangestellte bei den Hagopians beschäftigt.«
Samuel war nicht sicher, ob ihn der richtige Name des alten
Mannes tatsächlich weiterbringen würde, aber ihm war klar, dass der
großes Vertrauen in Lucine haben musste, um ihr ein so lange streng
gehütetes Geheimnis anzuvertrauen. »Fragen Sie ihn, ob ihm der Name
Chatoian etwas sagt.«
Noch bevor Lucine Samuels Frage übersetzen konnte, sahen sich
Hector und seine Begleiterin erstaunt an. »Woher kennen Sie diesen
Namen?«, fragte der alte Mann.
»Ich bin nach Paris gekommen, um verschiedenen Anhaltspunkten
nachzugehen, und Chatoian ist ein Name, der im Zuge meiner
Nachforschungen aufgetaucht ist. Wie es scheint, kommt er Ihnen bekannt
vor. Darf ich fragen, warum?«
»Die Familien Chatoian und Hagopian standen sich sehr nahe«,
begann der Alte. »Sie waren beide sehr wohlhabend und machten Geschäfte
miteinander. Ihre Kinder besuchten dieselben Eliteschulen.
Weitere Kostenlose Bücher