Gift
gegen dieVerdächtigen vorliegen hat?«
»Nur so viel, dass ihre Fingerabdrücke am Tatort gefunden
wurden und kaum Zweifel bestehen, dass sie die Tat begangen haben.«
»Das hat er also gesagt? Bezog er sich damit auf die Arbeiter,
die eine Zivilklage gegen die Firma Ihres Bruders angestrengt haben?«
»Ja, genau die. Dieses undankbare Pack! Niemand außer diesen
nichtsnutzigen Schmarotzern hatte jemals Grund, sich über meinen Bruder
zu beklagen, aber zum Glück sitzen sie jetzt im Gefängnis.« Candices
Gesicht begann zu entgleisen, und sie nahm ein Papiertaschentuch aus
der Schachtel auf dem Couchtisch, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu
tupfen.
Almandine saß währenddessen die ganze Zeit wie versteinert auf
der Kante des Sofas; die Beine und Hände fest aneinandergepresst, hatte
sie abwesend den Kopf gesenkt, als bekäme sie nichts von dem mit, was
um sie herum passierte. Trotzdem suchte Candice immer wieder mit
Blicken Bestätigung von ihr.
»Können Sie mir etwas über Ihre Familie erzählen?«
»Ich war verheiratet, aber mein Mann starb. Deshalb nahm ich
wieder meinen Mädchennamen an und kam aus Paris hierher, um meinem
Bruder Armand und unserem Cousin Joseph dabei zu helfen, den
Familienbetrieb zu führen.«
»Ach, Sie sind aus Frankreich? Mir ist aufgefallen, dass Sie
einen leichten Akzent haben.«
»Wir sind Armenier. Wahrscheinlich wissen Sie aber nicht viel
über unser Volk.«
»Ehrlich gestanden, nein. Könnten Sie mir dazu vielleicht
Näheres sagen, damit ich in meinem Artikel auch auf Ihre
Lebensgeschichte eingehen kann? Ich finde es außerordentlich wichtig,
die Öffentlichkeit über solche Dinge aufzuklären.«
»Kommen Sie mit. Werfen wir zuerst einmal einen Blick auf die
Landkarte.« Sie führte Samuel und den Fotografen in die Bibliothek, wo
eine große Karte des Nahen Ostens hing. Sie forderte sie auf, davor
Platz zu nehmen. »Um das volle Maß der Ungeheuerlichkeit dessen zu
begreifen, was meinem Bruder widerfahren ist, sollten Sie erst einmal
wissen, was unser Volk in der Vergangenheit durchgemacht hat. Wir sind
ein christliches Volk, das in Frieden mit dem Osmanischen Reich lebte.
Nachdem es bereits gegen Ende des letzten Jahrhunderts zu vereinzelten
Pogromen gekommen war, beruhigte sich die Lage zunächst wieder.
Wir sind ein Volk, das sich seit jeher durch Unternehmergeist
und Fleiß ausgezeichnet hat. Wir haben zu jeder Kultur, an der wir
teilhatten, einen wichtigen Beitrag geleistet. Zu Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts reichte der Einflussbereich, den wir uns im
Nahen Osten geschaffen hatten, von der Türkei und Teilen Syriens bis
zum Schwarzen Meer und in die heutige Sowjetunion.«
»Warum sind Sie dann ausgewandert?« Samuel sah kurz von seinem
Block auf, auf dem er sich die ganze Zeit eifrig Notizen machte.
»Unser Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann aus Erzurum.
Das liegt hier.« Sie deutete auf die Landkarte. »Alle Mitglieder unser
Familie wurden in Erzurum geboren – mein Bruder Armand 1910,
Joseph, unser Cousin, 1912 und ich 1915. Noch in meinem Geburtsjahr
begann die politische Situation zu eskalieren.
Die Türken hatten sich im Ersten Weltkrieg auf die falsche
Seite geschlagen und den Achsenmächten angeschlossen. 1915 begannen sie
einen fürchterlichen Genozid an unserem Volk, bei dem die Ressentiments
zum Ausbruch kamen, die in der türkischen Bevölkerung schon seit Jahren
unterschwellig geschwelt hatten. Allein in der Region um Erzurum waren
damals über zweihunderttausend Armenier ansässig. Als Türken und Kurden
1922 ihr Vernichtungswerk beendet hatten, waren nur noch
eintausendfünfhundert von uns übrig. Und die Welt sah dem Morden
tatenlos zu.
Zunächst dachte unser Vater, sein Wohlstand und seine
gesellschaftliche Stellung würden ihn vor den Türken schützen, doch
seine Naivität sollte ihn sein Vermögen und sein Leben kosten. Zum
Glück hatte er Teile seines Vermögens aus dem armenischen Sektor
geschleust, und wir flohen mit unserer Mutter, einem Onkel und dessen
Sohn, unserem Cousin Joseph, durch die Wüsten des heutigen Irak.« Sie
zeigte ihnen die Fluchtroute, die über Basra zum Persischen Golf führte.
»Wir entkamen auf einem französischen Schiff nach Frankreich,
wo wir Asyl erhielten und ein neues Leben begannen. Doch dann ging Ende
der dreißiger Jahre mit dem Erstarken der Nazis alles von neuem los.
Deshalb flohen meine Mutter und Armand sowie unser Onkel und seine
Familie unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
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