Gift
einmal bewusst, wie sehr ihm sein alter
Freund Louie fehlte, mit dem er so oft auf Footballspiele gewettet
hatte, ohne auch nur ein einziges Mal gegen ihn zu gewinnen.
Er bekam immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn er daran
dachte, dass Louie von chinesischen Gangstern ermordet worden war, die
es eigentlich auf ihn abgesehen hatten. Louie war aus Versehen in die
Schussbahn geraten. Allein der Gedanke daran jagte ihm einen kalten
Schauder über den Rücken. Obwohl das alles schon eine Ewigkeit her zu
sein schien, lag es noch nicht einmal ein Jahr zurück.
Samuel riss sich von den traurigen Erinnerungen an Louie los
und zerbrach den Glückskeks, der auf seiner Rechnung lag. Er verhieß
ihm großen Reichtum. Samuel konnte sich ein Lachen nicht verkneifen,
als er den kleinen Zettel in seine Jackentasche steckte und einen
Dollar fünfundsiebzig auf das Tablett legte.
Er machte sich auf den Weg zur Kirche und klopfte pünktlich
zum vereinbarten Zeitpunkt an die Tür. Derselbe Geistliche, der ein
paar Tage zuvor den Trauergottesdienst für Hagopian gehalten hatte,
öffnete ihm und führte ihn in ein Zimmer, dessen Wände von
Bücherregalen verdeckt waren. Samuel konnte die Schrift auf den
Buchrücken nicht lesen und nahm an, dass sie alle in armenischer
Sprache verfasst waren. Auf einem Bücherständer in der Mitte des Raums
lag eine große aufgeschlagene Bibel.
»Guten Tag, Father Agajanian. Ich bin Samuel Hamilton von der
Morgenzeitung. Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Geistliche, der
unwillkürlich stutzte, als er den Fettfleck auf dem Hemd seines
Besuchers sah.
Mit einem verlegenen Lächeln strich Samuel über den Fleck.
»Sie müssen entschuldigen, Father, aber ich schaffe es einfach nie,
mich beim Essen nicht zu bekleckern.«
»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, junger Mann.«
»Als Reporter bin ich ständig mit den unterschiedlichsten
Kulturen und Lebensformen konfrontiert, und ich muss gestehen, es ist
nicht immer leicht, ihre Andersartigkeit zu verstehen.«
»Wir Armenier sind keineswegs so viel anders als dieAmerikaner«,
erklärte der Geistliche. »Aber aus irgendeinem Grund werden wir
automatisch mit allen Levantinern in einen Topf geworfen, obwohl wir in
Wirklichkeit Arier sind und von der amerikanischen Regierung in
Zusammenhang mit der Einwanderungsproblematik seit 1923 als weiß
eingestuft werden. Das ist auch der Grund, weshalb es in Amerika so
viele Armenier gibt. Ohne diese Einstufung wären wir sicher nicht in so
großer Zahl willkommen gewesen.«
»Ich bin nicht ganz sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen,
Father.«
»In der öffentlichen Meinung werden wir dem geheimnisvollen
Orient zugeordnet und somit von der breiten Masse als ›anders‹ oder
›fremdartig‹ angesehen.«
»Ah ja. Aber fangen wir doch mit Mr. Hagopian an. Kannten Sie
ihn?«, fragte Samuel.
»Er war ein guter Mensch und gehörte zu denen, die am
großzügigsten für diese Gemeinde gespendet haben, zu deren
Einzugsgebiet fast die gesamte Bay Area gehört. Ich habe alle seine
Kinder getauft, und er hat mich jeden Monat ein-, zweimal aufgesucht.
Wenn ich für ein Projekt Unterstützung benötigte, konnte ich immer auf
ihn zählen, nicht nur finanziell. Dieser Mann war sich seiner sozialen
Verantwortung sehr deutlich bewusst.«
Das ist aber interessant, dachte Samuel überrascht. Auch wenn
er nicht an der Aufrichtigkeit des Geistlichen zweifelte, musste er
unwillkürlich an die missgebildeten Kinder von Janaks Mandanten denken.
»Wissen Sie Genaueres über seine geschäftliche Situation?«
»Was genau wollen Sie wissen?«
»Ihm gehörte eine große Mülldeponie, die offenkundig einiges
abgeworfen hat.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte ihm der Geistliche.
»Hatte er Feinde? Sie wissen, wirtschaftlicher Erfolg weckt
unweigerlich Neid unter den Konkurrenten, und es gibt immer Leute, die
es nicht verkraften können, wenn jemand sie überflügelt.«
»Ich persönlich kenne niemandem, der ihm übel gesinnt war. Er
genoss allgemein hohes Ansehen, und dies nicht nur in der armenischen
Gemeinde. Wenn ihm allerdings jemand Schaden zufügen wollte, wäre ich
wohl der Letzte, dem der Betreffende das erzählt hätte.«
»Da haben Sie natürlich recht«, sagte Samuel. »Wissen Sie, wo
Mr. Hagopian in der Nacht beziehungsweise in den frühen Morgenstunden
des Tages war, an dem er ermordet wurde?«
»Leider nein. Das müssen Sie seine Familienangehörigen
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