Gift
in die
Vereinigten Staaten. Ich hatte in der Zwischenzeit einen
Universitätsprofessor geheiratet, mit dem ich die Kriegsjahre in
England verbrachte, wo mein Mann für den britischen Geheimdienst
arbeitete. Nach dem Krieg kehrten wir nach Frankreich zurück, doch als
mein Mann 1950 starb, ging auch ich nach Amerika, wo sich mein Onkel,
sein Sohn Joseph, meine Mutter und Armand in Los Angeles niedergelassen
hatten.«
»Warum ausgerechnet in Los Angeles?«
»Weil dort bereits entfernte Verwandte von uns lebten.«
»Wie viele Armenier haben im Zuge des Genozids insgesamt ihr
Leben verloren?«
»Türken und Kurden haben über eineinhalb Millionen Angehörige
unseres Volkes ermordet.« Ihre Stimme brach, »Sie haben uns getötet,
weil sie keinerlei Konsequenzen zu fürchten hatten. Wir waren Christen,
sie waren Moslems, und wir waren sozusagen nur zu Gast in ihrem Haus,
weshalb alle Macht in ihren Händen lag. Was sie mit uns machten, war
nicht viel anders als das, was die Nazis im Zweiten Weltkrieg den Juden
angetan haben. Wir waren in allen Lebensbereichen, zu denen wir Zugang
hatten, sehr erfolgreich, und im Osmanischen Reich herrschten damals
verheerende Zustände. Deshalb suchten sie sich jemanden, dem sie die
Schuld an diesen Missständen geben konnten. Wir waren die idealen
Sündenböcke.«
»Wie ist die Lage Ihres Volkes heute?«
»Nicht besonders gut. Was von Armenien noch übrig geblieben
ist, befindet sich hinter dem Eisernen Vorhang in der Sowjetunion. Wir
haben zwar nach dem Ersten Weltkrieg bei der Friedenskonferenz von
Versailles die Rückgabe unserer Gebiete verlangt, aber unsere
Forderungen wurden nie erfüllt. Und die Türken haben ihr brutales
Vorgehen nie zugegeben, geschweige denn, dass sie sich dafür
entschuldigt hätten.«
»Das ist natürlich alles höchst bedauerlich«, sagte Samuel.
»Aber jetzt erzählen Sie mir doch bitte, wie Ihre Familie dazu kam,
eine Mülldeponie zu betreiben.«
»Angefangen haben wir in Los Angeles. Da die begehrtesten Jobs
bereits vergeben waren, blieb uns keine andere Wahl, als in die
Müllverwertung einzusteigen. Wir Armenier versuchen einfach, dort Fuß
zu fassen, wo sich uns die Gelegenheit bietet.«
»Wie kam Ihr Bruder nach Point Molate?«
»Unser Onkel war ausgesprochen geschäftstüchtig. Er hatte sich
in Los Angeles eine eigene Firma aufgebaut, und als mein Bruder mit dem
Studium fertig war, schickte er ihn hier hoch nach Nordkalifornien, um
eine weitere Deponie aufzumachen. Joseph, der Sohn unseres Onkels,
leitete die Firma in Los Angeles und kaufte in Fresno eine große Farm.«
»Ich glaube, mich erinnern zu können, dass Sie sagten, er wäre
nicht in Richmond.«
»Ja, er ist zurzeit in Fresno, und die Firma in Los Angeles
leiten seine Söhne.«
Als Candice schließlich mit ihrer Erzählung endete, wirkte sie
sichtlich mitgenommen. Samuel konnte sich nicht vorstellen, dass sie
jetzt noch in der Stimmung wäre, sich fotografieren zu lassen.
»Unterhält die Familie nach wie vor enge Beziehungen zu
Frankreich?«
»Ja, einige unserer Verwandten leben dort, und Armands Töchter
gehen dort zur Schule. Sie sind aus seiner ersten Ehe.«
»Und besuchen Sie sie ab und zu?«
»Mindestens einmal im Jahr.«
»Werden seine Töchter aufgrund des Todesfalls nach Amerika
reisen?«
»Nein. Er ist bereits beerdigt worden, und alle waren sich
einig, dass es zu belastend für sie wäre, jetzt noch herzukommen.«
»Gibt oder gab es irgendwelche Konflikte zwischen einzelnen
Familienangehörigen?«
»Nein.« Candice blickte sich nach ihrer Schwägerin um, die im
Wohnzimmer immer noch wie eine artige Schülerin auf dem teuren Sofa saß.
»Könnte ich jetzt vielleicht noch kurz mit Mrs. Hagopian
sprechen?«, fragte Samuel, dem Candices Blicke und die seltsame
Geistesabwesenheit der Witwe nicht entgangen waren.
»Almandine hat das alles sehr mitgenommen. Der Arzt musste ihr
Schlaftabletten und ein Beruhigungsmittel verschreiben. Wie Sie sehen,
ist sie noch sehr jung.«
»Sie scheint an die zwanzig Jahre jünger zu sein als ihr
Mann«, sagte Samuel.
»Vierundzwanzig Jahre, um genau zu sein. Aber sie ist für ihr
Alter sehr reif. Im Moment steht sie unter dem Einfluss eines
Beruhigungsmittels, Mr. Hamilton. Doch um auf Ihre Frage
zurückzukommen: Ich würde sagen, Probleme gibt es in allen Familien,
vor allem in solchen mit halbwüchsigen Töchtern, aber in unserer ist
nichts vorgekommen, was der Rede wert wäre.«
»Kommen die Töchter in den Sommerferien in
Weitere Kostenlose Bücher