Gift
sechzehn Uhr
dreißig einen Termin mit ihnen. Leider kommen Sie etwas zu früh. Wenn
Sie sich also bitte noch einen Moment gedulden würden.«
Er griff zum Telefonhörer und teilte den beiden Besuchern dann
mit, dass die beiden Damen sie erwarteten.
»Fahren Sie bitte in den zehnten Stock.«
»Danke, Mr. …? Wie heißen Sie eigentlich?« Samuel
versuchte sich bei dem alten Mann einzuschmeicheln, denn er nahm an,
dass dies nicht sein einziger Besuch bei den Hagopians bleiben würde.
»Carlton. Thaddeus Carlton.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Carlton. Hier ist meine
Karte, damit Sie sich an mich erinnern.« Samuel überreichte ihm
lächelnd seine Visitenkarte.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Hamilton. Ich vergesse kein
Gesicht.« Damit führte der strenge alte Herr sie zum Fahrstuhl im
hinteren Teil des Foyers.
»Hast du den geringschätzigen Blick dieses Kerls gesehen?«,
sagte Marcel lachend, nachdem sich die Tür des Fahrstuhls hinter ihnen
geschlossen hatte.
»Das muss das erste Mal sein, dass ein Reporter seinen Fuß in
dieses Haus setzt«, bemerkte Samuel. »Es kommt sicher nicht allzu
häufig vor, dass jemand, der hier wohnt, kastriert und anschließend am
Tor einer Müllkippe aufgehängt wird.«
»An sich müsste dieses Relikt aus dem letzten Jahrhundert doch
einige interessante Geschichten auf Lager haben.«
»Aber du kannst mir glauben, dass wir kein Wort aus ihm
herausbekommen würden«, sagte Samuel.
Der Fahrstuhl führte direkt in die Wohnung der Hagopians. Die
beiden Männer traten in eine kleine Diele mit mehreren Spiegeln, wo
eine Hausangestellte in einem schwarzen Kleid und einer weißen Schürze
sie in Empfang nahm. »Miss Hagopian erwartet Sie bereits«, sagte sie
mit einem starken französischen Akzent und führte sie in ein großes
Zimmer mit eleganten Möbeln, dicken Perserteppichen und kostbaren
Vorhängen. »Möchten die Herren Tee?«, erkundigte sie sich.
»Nein, danke«, antworteten beide einstimmig.
Durch die Fenster hatte man einen spektakulären Blick auf die
Bucht von San Francisco, die matt in der Wintersonne schimmerte. Vor
Alcatraz fuhren zwei große Frachtschiffe aneinander vorbei, von denen
eines in Richtung Golden Gate unterwegs war, das andere zu den
Hafenanlagen südlich der Market Street oder in Oakland. Marcel, der
seine Fototasche und die Kamera mit dem großen Blitz umhängen hatte,
stieß angesichts des Panoramas einen bewundernden Pfiff aus.
Im selben Moment kamen zwei Frauen in das Zimmer. Beide waren
ganz in Schwarz gekleidet und stark geschminkt: rote Lippen, schwarzer
Lidstrich und eine fleischfarbene Grundierung, die ihren Gesichtern
etwas Maskenhaftes verlieh. Es war die Größere und Elegantere von
beiden, die das Wort ergriff. »Ich bin Candice Hagopian, Armands
Schwester. Das ist seine Frau Almandine.«
Der Duft eines schweren Parfüms raubte Samuel fast den Atem,
als er den Frauen die Hand schüttelte. Erneut nahm er überrascht zur
Kenntnis, wie jung Almandine Hagopian aussah. Die Heizung war voll
aufgedreht, und es war unerträglich heiß in der Wohnung, aber die junge
Witwe war angezogen, als schneite es: ein Rollkragenpullover aus
Kaschmir, der ihr bis an die Ohren reichte, dicke Wollstrümpfe und
Stiefel. »Wie bereits gesagt, Miss Candice, ich würde Ihnen gern einige
Fragen stellen und ein paar Fotos machen, wenn Sie nichts dagegen
haben.«
»Diese Angelegenheit war für uns alle ebenso schmerzhaft wie
unerfreulich«, antwortete Candice. »Wir haben bereits der Polizei
unzählige Fragen beantwortet.«
»Mir ist sehr wohl bewusst, was Sie gerade durchmachen und wie
wichtig Ihnen in so einer Situation Ihre Privatsphäre ist«, erklärte
Samuel mit allem Mitgefühl, das er aufzubringen imstande war. »Ich
würde nur gern wissen, was für ein Mensch Ihr Bruder war, denn ich
suche nach einer Erklärung für dieses abscheuliche Verbrechen, um den
Menschen auf die Spur zu kommen, die es begangen haben.«
Die Schwester des Ermordeten machte eine wegwerfende Bewegung
mit ihrer sorgfältig manikürten Hand. »Der Bezirksstaatsanwalt hat uns
versichert, dass sich bereits einige der Männer, die für dieses
abscheuliche Verbrechen verantwortlich sind, hinter Schloss und Riegel
befinden.«
»Sie sprechen von Mr. Graves?«, fragte Samuel und machte sich
dabei eifrig Notizen.
»Ja, er meinte, es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis die
Schuldigen ihre gerechte Strafe bekommen würden.«
»Hat er Ihnen auch gesagt, welche Beweise er
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