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Gift

Gift

Titel: Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gordon
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einfach alles. Auch die meisten Metzgereien befinden
sich weiter hinten. Hätten Sie Lust, kurz auf einen armenischen Kaffee
reinzuschauen?«
    »Nein, danke. Ich möchte lieber möglichst schnell mit diesem
Hector Somolian sprechen.«
    Als sie die Straße weiter hinuntergingen, fiel Samuel auf, wie
alt und heruntergekommen die Häuser waren. Von den schmutzigen
Fassaden, die einmal in den unterschiedlichsten Farbtönen gestrichen
gewesen waren, bröckelte der Putz, und obwohl die Häuser halb verfallen
wirkten, herrschte überall ein ständiges Kommen und Gehen. An der Rue
des Fêtes bogen die zwei Frauen und Samuel links ab und blieben wenig
später vor einem Haus stehen, über dessen Eingang in gusseisernen
Buchstaben das Wort ›Hotel‹ stand. Die schwarzlackierte Eingangstür war
von unzähligen Farbschichten überzogen. Sasiska nickte, und Samuel
öffnete die schwere Tür.
    Das dunkle Foyer wurde von einem verstaubten Kronleuchter, an
dem viele Glühbirnen fehlten oder ausgebrannt waren, nur notdürftig
erhellt.
    »Nicht sonderlich einladend«, bemerkte Samuel.
    »Was erwarten Sie?«, sagte Lucine. »Die Leute, die hier
wohnen, sind sehr arm.«
    Sie gingen an der langen Mahagonitheke vorbei, die früher als
Rezeption gedient hatte. Das abgewetzte und zerkratzte Holz hatte jeden
Glanz verloren und war übersät mit eingeritzten Initialen. Auf der
Theke stand ein altes schwarzes Telefon, und an der Wand dahinter hing
ein Regal mit zahlreichen Fächern, in denen früher die Post und die
Zimmerschlüssel abgelegt worden waren. Jetzt waren sie leer und
staubbedeckt.
    Sasiska betrat einen langen dunklen Gang und blieb vor der
dritten Tür auf der linken Seite stehen. Sie lauschte kurz, bevor sie
leise klopfte. Die Tür ging einen Spaltbreit auf, und eine orientalisch
aussehende Frau mit einem Kopftuch spähte nach draußen. Als sie Sasiska
sah, löste sie die Türkette und öffnete die Tür ganz. Die beiden Frauen
umarmten sich und wechselten ein paar Worte in einer fremden Sprache,
von der Samuel annahm, dass es Armenisch war.
    Aus dem Zimmer hinter der Tür drang der Geruch von Essen, Leim
und Leder. An provisorischen Werkbänken saßen sieben Personen, die
Schuhe fertigten. Sasiska und die Frau mit dem Kopftuch gingen Hand in
Hand auf einen kleinen einbeinigen Mann zu, der an einer Nähmaschine
saß. An der Werkbank neben ihm lehnte ein Paar Krücken. Der Mann hatte
schulterlanges weißes Haar und ein bronzefarbenes Gesicht, in dem das
Alter deutliche Spuren hinterlassen hatte. Er war über die Nähmaschine
gebeugt und ganz auf seine Arbeit konzentriert.
    Als Sasiska ihm auf die Schulter tippte, blickte er sich um
und lächelte sie zahnlos an, dann wandte er sich von der Nähmaschine ab
und setzte sein Bein vom Pedal auf den Boden.
    »Sie haben recht«, flüsterte Samuel Lucine zu. »Eine richtige
kleine Schuhfabrik.«
    »Ja, aber nur tagsüber. Die Leute hier gehören zur selben
Familie. Hier arbeiten sie nicht nur, sie leben auch alle in diesem
Raum. Nach Feierabend klappen sie die Betten herunter, und in der Ecke
dort drüben kochen sie ihr Essen.« Sie deutete auf einen kleinen Herd,
auf dem ein Topf stand.
    »Und die Toiletten?«
    »Am Ende des Flurs. Sie sind für alle Bewohner dieser Etage,
und sie müssen sie selbst sauber halten. Das ist hier noch in vielen
alten Häusern so, Samuel. Eigene Toiletten sind ein Luxus.«
    »Ich nehme mal an, der alte Mann ist Hector Somolian. Glauben
Sie, er wird mit mir reden?«, fragte Samuel.
    »Ja, deswegen haben wir Sie doch hergebracht.«
    »Fragen Sie ihn, wie gut er die Hagopians kannte.«
    Lucine wandte sich an Sasiska, die Samuels Frage an den
kleinen Einbeinigen weitergab, der daraufhin sichtlich auflebte und mit
seiner brüchigen Stimme mehrere Minuten auf sie einzureden begann. Dann
übersetzte Sasiska das Gesagte für Lucine ins Französische.
    »Er sagt, er sei in seiner Jugend Diener bei den Hagopians
gewesen«, erklärte Lucine schließlich. »Als die Lage in Erzurum immer
schlimmer wurde – unmittelbar bevor die Türken von Haus zu
Haus gingen und jeden umbrachten –, flohen die Hagopians im
Schutz der Nacht aus der Stadt. Der Mann, der ihnen dabei half, war ein
Türke, ein hochrangiger Offizier. Deshalb dachte Hector, die Familie
seines Herrn wäre verraten worden und würde zur Hinrichtung abgeführt.
Hagopian erlaubte den Dienern, sich alles aus dem Haus zu nehmen, was
sie wollten. Weil sie glaubten, im Haus am sichersten zu sein, löschten
sie alle

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