Gift
Graves
sein, und wie unschwer zu erkennen war, hatte er schon einiges
getrunken.
Es würde für einiges Aufsehen sorgen, wenn es ihm gelänge, ein
Foto von einem Deputy District Attorney zu schießen, der gerade zwei
Frauen betatschte. Aber weil Deadeye mit dem Rücken zu ihnen stand, war
es sinnlos, ihn aus dieser Perspektive abzulichten. Marcel hatte nur
eine einzige Möglichkeit, ein Foto von ihm zu machen, und danach wäre
in der Bar auf der Stelle der Teufel los.
Die Bedienung, die lustlos an ihren Tisch kam, sah aus wie
eine abgearbeitete Hausfrau, die ihre Haushaltskasse aufzubessern
versuchte. Sie sah die zwei Männer an dem kleinen runden Tisch mit
hochgezogenen Augenbrauen an. Vor allem wegen der sperrigen Kamera, die
Marcel vor sich auf dem Tisch liegen hatte, wirkten die beiden in
dieser Umgebung sichtlich fehl am Platz.
»Für mich einen Scotch auf Eis«, sagte Samuel.
»Und ich nehme ein Bier«, sagte Marcel. »Wenn's geht, ein
Grace Brothers.«
»Wann fängt die Band zu spielen an?«, fragte Samuel.
»Sie müssten eigentlich jeden Moment wieder auf die Bühne
kommen. Sie machen nun schon mehr als eine Viertelstunde Pause.«
Das hörte sich vielversprechend an. Wenn er Deadeye dazu
bringen konnte, sich umzudrehen, bekäme er möglicherweise, was er
brauchte.
Wie die Bedienung gesagt hatte, kamen die Musiker kurz darauf
zurück auf die Bühne und begannen, Tanzmusik zu spielen. Das war der
Moment, in dem sich Deadeye und seine zwei Begleiterinnen umdrehten. Er
legte jeder einen Arm um die Taille und führte sie auf die Tanzfläche.
Samuel flüsterte Marcel aufgeregt zu: »Mach ein Foto von dem
Scheißkerl, und dann nichts wie raus hier!«
Marcel stellte seine Kamera scharf und drückte auf den
Auslöser. Der Blitz hatte im Schummerlicht die Wirkung einer Explosion.
Das bläuliche Aufflammen verlieh der Bar etwas Unwirkliches, wie in
einem film noir , in
dem keine der obligatorischen Requisiten fehlte: der dichte
Zigarettenqualm, die bleichen Gesichter der Kneipengäste, die müden
Bedienungen, der Bösewicht mit den Prostituierten im Arm und der
Reporter mit seinem Fotografen. Viel Zeit blieb Samuel jedoch nicht,
sich darüber Gedanken zu machen, denn Deadeye hatte sich rasch von dem
Schock erholt und reagierte sofort. Er sah Marcel mit der Kamera zur
Tür rennen und stürzte ihm hinterher. Doch Samuel stellte ihm ein Bein,
und Deadeye landete in voller Länge auf dem Boden.
»Oh, Entschuldigung.« Samuel tat so, als wollte er Deadeye
aufstehen helfen. In Wirklichkeit hielt er ihn jedoch an seiner
Anzugjacke fest, um ihn daran zu hindern, Marcels Verfolgung
aufzunehmen. Außer sich vor Wut, riss sich Deadeye von Samuel los und
stürmte nach draußen. Doch dort bekam er nur noch mit, wie Marcels Ford
unter lautem Reifenquietschen losfuhr und um die nächste Ecke
verschwand. Wegen der Dunkelheit war es Deadeye nicht möglich, das
Nummernschild zu erkennen. Er rannte in die Bar zurück, um Samuel zur
Rede zu stellen, doch der hatte bereits durch den Seiteneingang das
Weite gesucht und rannte, so schnell er konnte, die Straße hinunter, wo
Marcel an der Ecke mit laufendem Motor auf ihn wartete.
Am nächsten Morgen war das Foto fertig. Es
war sensationell. Nicht nur, dass Deadeye einen erkennbar betrunkenen
Eindruck machte, auch die beiden Frauen in seiner Begleitung wirkten
ordinär und billig. Samuel hatte zehn Abzüge in Janaks Kanzlei
mitgebracht, wo sie zunächst herzhaft über die gelungene Aufnahme
lachten, bevor sie sich Gedanken darüber zu machen begannen, wie sie
die Fotos am gewinnbringendsten einsetzen konnten. Samuel rief, wie
vereinbart, Mae Ming an.
»Hallo, Miss Ming, wir haben ein Foto von ihm. Er war
tatsächlich in der Bar – genau, wie Sie gesagt haben. Ich weiß
gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Das ist mehr, als wir uns
erträumt hätten. Und glauben Sie mir, Graves wird alles andere als
begeistert sein, wenn die Öffentlichkeit von seinen nächtlichen
Eskapaden erfährt. Wie stellen wir es jetzt am besten an, damit das
Foto möglichst in allen Zeitungen von Contra Costa County
veröffentlicht wird?«
»Lassen Sie mich das Foto erst sehen, bevor Sie irgendetwas
damit unternehmen«, verlangte Mae Ming.
»Okay, ich werde dafür sorgen, dass Sie es bis spätestens
heute Mittag bekommen.« Damit legte er auf.
»Vanessa, können wir dein Auto haben?«, rief Janak.
»Warum fragst du mich das überhaupt noch?«, antwortete sie von
ihrem Schreibtisch am anderen Ende der
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