Gifthauch
noch nicht wieder laufen. Vielleicht kann sie es nie wieder.«
»Das ist aber nicht Ihre Schuld.«
Er zuckte abermals mit den Schultern. »Viele Leute sehen das anders. Ihr Chef zum Beispiel.«
Jill rückte vom Tisch ab. »Okay, Derek. Ich würde sagen, das reicht vorerst.«
Derek runzelte die Stirn. »Einige Fälle – wie der heute – sind haarig. Ich arbeite normalerweise allein. Manchmal werden Menschen um mich herum verletzt – wie Cindy.« Er sah ihr in die Augen. »Oder sterben. Wie die falsche Irina. In meiner Nähe kann es gefährlich sein. Und Sie sind offiziell nicht einmal im Dienst. Also überlegen Sie es sich gut, ob Sie die Sache mit mir weiterverfolgen wollen. Sie haben einen Sohn, um den Sie sich kümmern müssen.«
Sie nickte. Erneut fragte sie sich: Tust du das jetzt, weil es richtig ist oder weil du etwas für Derek empfindest? Eine Antwort darauf besaß sie nicht. »Habe ich. Ich habe es mir überlegt, meine ich. Was kommt als Nächstes?«
Derek lächelte. »Sobald wir gegessen haben, möchte ich William Harringtons Leiche sehen. Sie wissen sicher, wo das Leichenschauhaus ist?«
71
17.20 Uhr
Michael Church und Ray Moretti hingen in Rays Zimmer ab und spielten hinter geschlossener Tür auf Rays Play-Station 3 ›Star Wars Battlefront‹. Michael kassierte eine Niederlage nach der anderen. Normalerweise lagen Ray und er bei Videospielen Kopf an Kopf, obwohl Ray einen leichten Vorteil besaß, weil er häufiger spielen konnte als sein Freund. An diesem Tag aber konnte sich Michael nicht konzentrieren. Ihm ging so vieles nicht aus dem Kopf: die Leiche, die er gesehen, das, was er über seinen Vater erfahren hatte, die Terroranschläge, einschließlich des Gefühls, dass zwischen ihm und Rays Schwester Ann etwas geschehen war. Als wäre eine Verbindung hergestellt worden. Er musste immer wieder an sie denken.
Ray johlte, als sein Stormtrooper mit einer Granate einen feindlichen Vorposten ausschaltete. »Nimm das, du Rebellenschwein!«
Michael verdrehte die Augen. Ray war drauf. Sogar mehr drauf als sonst. Er fragte sich, ob Ray etwas eingeworfen hatte – Ecstasy oder eher Speed. Seines Wissens rauchte Ray nur Pot, aber überrascht hätte es ihn nicht, wenn er Stärkeres einnahm. Er spürte, dass er mit Ray an einen Kreuzweg gelangte. Ihm kam es vor, als müsste er dringend Entscheidungen treffen. Entscheidungen wie: entweder wie Ray sein und high werden und seine ganze Zeit damit verbringen, Mädchen nachzujagen und Videospiele zu spielen, oder über sein Leben nachdenken und ernsthaft versuchen, Dinge zu regeln und zu erledigen, so wie Ann fürs College und die Universität plante. Noch konnte er diese Entscheidungen verdrängen, aber sie kamen auf ihn zu, dessen war er sich sicher.
Vielleicht war es das Konzert am Abend, das Ray so manisch werden ließ. Michael war bei dem Gedanken daran unbehaglich zumute. Seine Mom hatte ihm eindeutig verboten, es zu besuchen. Er wusste, dass er eigentlich darauf verzichten und zu Ray sagen sollte: »Nein, Mann, meine Mom hat es mir nicht erlaubt, ich fahre nach Hause.« Dort sollte er seine Hausaufgaben machen und sich entspannen, etwa beim Fernsehen.
»Wann kommen deine Eltern nach Hause?«, fragte Michael.
Ray zuckte mit den Schultern. »Wir sind weg, ehe sie da sind. Mom kommt nicht vor sechs, halb sieben, und Dad … wer weiß? Er arbeitet ständig.«
Wenn in der Bemerkung Bitterkeit lag, so hörte Michael sie nicht, aber er achtete auch gar nicht darauf.
»Für sie ist es okay, dass wir zum Konzert gehen, oder?«
»Ist ihnen scheißegal«, entgegnete Ray und brachte einen anderen Planeten ins Spiel.
»Ich weiß nicht, ob ich mitgehen soll.« Er bekam den Satz nur zögernd über die Lippen. Er versuchte, sich selbst zu überzeugen, wollte sehen, wie Ray reagierte.
Ray erstarrte, dann fuhr er zu ihm herum. »He! Was redest du denn für einen Scheiß?«
»Meine Mom, weißt du, sie wollte nicht, dass ich gehe, und der ganze Mist heute …«
»Von wegen! Du Weichei! Lass mich bloß nicht im Stich! Das wird super! J Slim! Und Scheiße, ich hab die Ausweise, von denen ich dir erzählt habe.«
»Was für Ausweise?«
»Hab ich dir doch gezeigt, oder?«
Michael schüttelte den Kopf.
»Oh, Mann«, sagte Ray. »Stimmt ja. Ich hab sie heute Nachmittag bekommen. Du weißt doch noch, wie ich das Foto von dir aufgenommen habe, oder?«
Michael schüttelte wieder den Kopf. Ray spielte ständig mit seiner Digitalkamera herum, machte allerdings
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