Giftspur
roten Herzaugen. Sie atmete noch einige Male tief durch die Nase ein, dann ging sie zurück ins Haus.
Claudia Reitmeyer war noch außer Hörweite, als Angersbach sich in Richtung des Psychologen beugte und ihn fragte: »Was war das eben für ein Ausbruch bei der Reitmeyer?«
»Kontrollverlustängste«, mutmaßte Leydt. »Der Erpresser setzt sie massiv unter Druck, bürdet ihr auf, dass sie die Verantwortung trägt und die Polizei raushalten soll. Andernfalls sterben Menschen. Das, gepaart mit dem Stress, unter dem sie steht …«
»Schon gut, ich hab’s kapiert. Wir dürfen uns also glücklich schätzen, dass wir bleiben dürfen.«
»Wenn Sie das so sehen wollen«, wandte Leydt ein. »Machen Sie ihr keinen Vorwurf draus.« Seine Stimme wurde zum Flüstern, denn Claudia näherte sich ihnen.
»Okay, eine schnelle Analyse, bitte«, leitete Ralph Angersbach zur Besprechung über und massierte sich angestrengt den Nasenrücken. »Zuerst die Fakten. Wann schreien hier irgendwelche Hähne, und was zum Teufel ist
Bonifatius’ Kreuz?
Eine Kirche?«
»Das Kreuz sagt mir etwas«, antwortete Sabine mit eilig erhobenem Finger. »An der Kreisstraße nach Heldenbergen steht ein Steinkreuz, da mussten wir in der Grundschule einmal hinwandern.«
»Aber Steinkreuze stehen doch praktisch überall hier.« Angersbach war nicht überzeugt. »Warum also ausgerechnet dieses?«
»Angeblich hat der Leichenzug dort Rast gemacht«, erklärte Sabine weiter und kniff die Augen zusammen, schätzungsweise grub sie tief in ihren alten Heimat- und Geschichtskenntnissen. »Bonifatius starb, soweit ich weiß, in Mainz und wurde von dort aus zum Begräbnis nach Fulda transportiert. Die Strecke wird zunehmend von Wanderern genutzt, nein, von
Pilgern
«, korrigierte sie sich.
»Eine Art
hessischer Jakobsweg,
oder wie?« Angersbach kratzte sich missmutig am Kopf.
»Könnte man so sehen«, grinste Volker Leydt. »Diese Form der Glaubensrituale ist ja wieder im Kommen. Und ich gebe Frau Kaufmann recht, es ist das markanteste Steinkreuz in der Gegend und das einzige, das zur Bonifatiusroute zählt.«
»Hm. Und die Uhrzeit?«
»Hähne krähen vor Sonnenaufgang«, erklang müde die Stimme von Claudia Reitmeyer. Sie hatte gedankenverloren in die Dunkelheit geschaut und das Gespräch aus der Distanz verfolgt. Nun trat sie zu ihnen und ergänzte: »Derzeit ist das wohl gegen fünf Uhr.«
»Danke.« Angersbach schenkte ihr ein Lächeln. »Damit haben wir Zeit und Ort, wobei ich es für recht fragwürdig halte, derart unpräzise zu sein.«
»Der Ort ist eindeutig«, widersprach Sabine. »Das Kreuz steht für sich, daneben ein Baum und rundherum Felder.«
»Okay, aber die Zeit. Warum nicht ›fünf Uhr‹ oder einfach ›Mitternacht‹?«
»Mich wundert das auch«, warf Leydt ein. »Das Verhalten dieses Erpressers ist äußerst atypisch. Einerseits drängt er auf eine reibungslose Übergabe. Andererseits drückt er sich weder bei der Nennung des Ortes noch bei der Uhrzeit klar aus. › 12 Uhr, Hauptbahnhof, Mülleimer an Gleis 1 .‹
Das
wäre präzise.«
Sabine nickte. »Noch etwas?«
»Die Wahl des Ortes an sich ist ebenfalls problematisch. Strategisch unklug, um es vorsichtig auszudrücken. Ringsherum flache Felder, und nur eine einzige, außerhalb der Stoßzeiten relativ einsame Straße.«
»Nun ja, dafür kann er den Übergabeort aus der Ferne observieren, um sicherzugehen, dass außer Claudia Reitmeyer niemand dort aufkreuzt.«
»Die taktische Beurteilung überlasse ich Ihnen«, lächelte Leydt. Er griff sich hinter den Kopf und zupfte das Gummiband zurecht.
»Dann sagen Sie uns eines: Wird Paracelsus, wenn er das Geld hat, mit seiner Giftmischerei aufhören?«
»Darauf antworte ich Ihnen nicht als Psychologe«, wehrte Leydt vehement ab, überlegte kurz und setzte nach: »Aber aus dem Bauch heraus denke ich, dass ihm das Geld weitestgehend egal sein dürfte.«
»Warum dann so ein Brimborium?«
»Weil er sich inszeniert. In jeder Mail, in allem, was er bisher getan hat. Von der Namenswahl bis hin zur Lösegeldanweisung: Paracelsus rückt sich in den Brennpunkt der Ermittlung.«
»Nur, um seine Forderungen zu unterstreichen?«, dachte Sabine laut und mit zweifelndem Gesichtsausdruck. »Oder möchte er die Aufmerksamkeit der Medien gewinnen, um dem Ansehen des Hofes zu schaden?«
»Die Beweggründe können mannigfaltig sein«, urteilte Leydt auf seine relativierende Art und Weise.
»Eines haben sie aber gemeinsam«, knurrte
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