Giftspur
Aber ich heule dich hier voll, dabei hast du eine anstrengende Reise hinter dir.«
»Macht nichts«, lächelte Michael sanftmütig. »Ich bin froh, wenn ich einfach mal schweigen und zuhören kann.«
Lügner.
Unter seinesgleichen stand das Computergenie nur allzu gerne im Mittelpunkt, so viel wusste auch Sabine. Aber es waren edelmütige Schwindeleien wie diese, für die sie ihn liebte. Michael wusste, wie man einer Frau bedingungslose Aufmerksamkeit schenkte, ohne dass man sich dabei schlecht fühlte.
»Was ist das denn nun für ein Kerl? Gibt’s da keine Details aus seiner Vita, die man sich zunutze machen könnte?«
»Um
was
damit zu machen?«
»Um ihn besser zu verstehen, um zu kontern, um Fettnäpfchen zu vermeiden. Keine Ahnung, such dir was aus«, antwortete Michael. Dann grinste er breit. »Oder soll ich ihn verdreschen?«
»Ach, du.« Sabine knuffte ihn leicht in die Rippen. »Als würdest du jemandem etwas antun können.«
»Wenn’s für dich wäre …«
Er küsste ihre Stirn.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte sie schließlich, nach einem Augenblick der Stille, in dem das leise Pochen von Michaels Herz das Einzige war, was zu hören war. Und der sanft über ihre Haare streichende Atem.
Und das Knacken der Spülmaschine.
»Ich kenne zwar einige Umstände aus seinem Leben, aber die meisten Fakten beinhalten mehr Fragen als Antworten. Zum Einschätzen jedenfalls reicht es nicht.«
»Wie kommt’s?«
»Er gibt einfach kaum etwas von sich preis. Gestern haben wir bei ihm gegessen, weil es auf dem Weg lag …«
»Soso.«
Offenbar hatte Michael nun vor, ihr eine gespielte Szene zu machen, weil sie, kaum dass er einige Tage wegfuhr, mit fremden Männern essen ging. Doch genauso offensichtlich schien er zu erkennen, dass es nicht an der Zeit für weitere Flachsereien war, und verkniff sich den Rest. Dankbar nickend, fuhr sie fort: »Er hat ein Haus geerbt von einer Frau, die er nicht kannte. Seiner Mutter. Und in dem Haus lebte seine Halbschwester, von deren Existenz er nicht einmal wusste. Zwischen den beiden scheint ein fortwährender Grabenkrieg zu laufen.«
»Und dann wunderst du dich, wenn er schräg drauf ist?«
Die Frage klang vorwurfsvoller, als sie gemeint war, dessen war Sabine sich sicher. Dennoch fühlte sie sich mit einem Mal schuldig.
»Mir ging’s auch schon richtig mies, na und?«, konterte sie daher trotzig. »Ich habe es dann aber in mich hineingefressen, anstatt es an anderen auszulassen.«
»Dafür bekommt
er
kein Magengeschwür«, erwiderte Michael schlagfertig und grinste entwaffnend.
»Okay, ich gebe auf.« Sabine stöhnte und vergrub ihren Kopf in seiner Achselhöhle.
»Ich wollte dich nicht angreifen«, setzte er nach einigen Sekunden versöhnlich nach, »aber dein Kollege hat dir gegenüber eine beachtliche Offenheit gezeigt. Er hat dich eingeladen, dich in sein Leben gelassen, hinter die kauzige Fassade …«
»Nun ja, ich habe ihn wohl ein wenig überrumpelt.« Sabine schmunzelte, und Michael nickte lächelnd. Sie lagen schweigend da, seine Finger durchfuhren sanft ihre Haarsträhnen, und Sabine genoss den Frieden und die Stille dieses Augenblicks. Michael war auf ihrer Seite, das wusste sie, auch wenn sie einander andauernd neckten. Doch seine Informatikerseele konnte er nicht verleugnen. Zu oft sprach Rationalität aus ihm, wo Sabine sich emotionale Anteilnahme wünschte.
Mitleid.
Genau betrachtet war das der richtige Begriff dafür. Aber genau das gab es von ihrem Freund, wenn überhaupt, nur sehr sparsam.
»Soll ich mich denn jetzt mal ein wenig schlaumachen?«
Sabine hob den Kopf gerade rechtzeitig, um das Funkeln in den Augen ihres Freundes zu erkennen. Ein Ausdruck, den Sabine nur allzu gut kannte. Wenn es darum ging, aus den Tiefen des Internets Informationen zu fischen, die sonst niemand zu finden vermochte, gab es keinen Besseren als Michael Schreck. Wild entschlossen, ganz in seinem Element. Der Jagdtrieb war geweckt.
»Meinetwegen«, nickte sie und grinste.
Warum auch nicht?
Was immer es an Geheimnissen über Ralph Angersbach gab,
er
würde sie finden.
Etwa zur gleichen Zeit, einige Kilometer nördlich, ruckelte Ralph Angersbach seinen Lada über dunkle Feldwege. Der helle Mond gestattete ihm, zweihundert Meter vor dem Erreichen seines Ziels die Scheinwerfer auszuschalten und bis zu einer Biegung weiterzufahren, hinter der sich der Blick auf den vor ihm liegenden Hof eröffnete. Er drehte den Zündschlüssel herum, und der Dieselmotor
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