Giftspur
war
ihre
Stadt. Noch immer.
Sabine Kaufmann drehte den Kopf nach hinten und steuerte ihren Wagen rückwärts in eine steil abfallende Garageneinfahrt, die offenbar zu einer Kindertagesstätte gehörte. Spätabends würde sie wohl kaum jemandes Parkplatz blockieren, schloss sie, außerdem hatte sie nicht vor, lange zu bleiben.
Frankfurt am Main; der Stadtteil Bonames gehörte zum selben Bezirk wie Sabines alte Wohnung in Heddernheim, wenngleich es sich dabei nicht um die schönsten der dreiundvierzig Stadtteile handelte. Sie hatte viele Jahre ihres Lebens hier verbracht, die meisten davon waren gute Jahre gewesen, und sie war erleichtert, dass Angersbach nicht permanent herumnörgelte. Der Kontrast zwischen Stadtkind und Landei jedenfalls war an diesem Abend kein Streitthema zwischen ihnen. Im Gegenteil. Es schien sie heute sogar zu verbinden, und Angersbach wirkte zahm wie ein Schoßhund. Lag es an den Schmerzmitteln, die ihr Partner widerwillig hatte schlucken müssen, weil der Bewegungsradius seines Armes immer weiter abnahm? Oder plagte ihn schlichtweg die Sorge um das junge Mädchen, das sich in seiner ungewollten brüderlichen Obhut befand?
Wie auch immer, es würde niemals
seine
Stadt werden, ebenso wenig wie Bad Vilbel, aber das musste auch nicht sein. Sabine hatte sich längst dazu entschieden, ihm künftig so tolerant und entgegenkommend wie möglich zu begegnen, solange er den Bogen nicht überspannte. Vielleicht würden die kommenden Stunden ein gutes Fundament schaffen, auch wenn sie todmüde war und ununterbrochen gähnte.
»Dieses Wohnklo etwa?«, brummte Angersbach argwöhnisch, als sie ausgestiegen waren und Sabine das Betonpflaster hinaufstieg. Er deutete auf eine langgezogene Hochhausreihe, und Sabine bejahte. »Haben Sie die Namen?«
Der Kommissar hatte zwischenzeitlich mehrmals versucht, Janine zu erreichen, doch sie hatte das Telefon entweder absichtlich überhört oder war nicht zu Hause. Das Handy schien wie gewöhnlich abgeschaltet zu sein, eine Tatsache, die für ein sechzehnjähriges Mädchen absolut unüblich war. Michael Schreck war der Sache daraufhin auf den Grund gegangen – ohne dass Sabine ihrem Kollegen etwas davon verriet – und hatte sie wissen lassen, dass die Dinge ein wenig anders lagen. Janine hatte ihr Handy sehr wohl auf Empfang und war zudem recht häufig online. Angersbachs Handy- und Festnetznummern allerdings hatte sie offenbar blockiert beziehungsweise nur einem bestimmten Personenkreis das Anrufen gestattet. Eine Mailbox hatte sie nicht aktiviert. Daraufhin hatte Sabine ihr eine SMS getippt, in der sie schrieb, dass sie Ralphs Kollegin von gestern Abend sei und bitte kurz zurückgerufen werden möchte. Heute noch. Doch Janine wäre nicht Janine, wenn sie dem Ansinnen einer Bullin nachkommen würde.
Bullin? Bullette?
Sabine musste die Kleine unbedingt fragen, welcher Begriff ihrer Meinung nach für das weibliche Pendant eines Bullen passte. Aber dazu mussten sie sie erst finden, bevor die Kollegen der Drogenfahndung das taten.
Ralph Angersbach hatte seinem Gedächtnis zwei Namen abringen können, die beide in Bonames gemeldet waren. Sabine hatte die Namen eilig zwischendurch überprüft, und nun warf Angersbach einen Blick auf den zerknitterten Zettel, auf dem er die Hausnummern hinter die Personen gekritzelt hatte. Es war ein Glücksspiel, und er hatte sich die mürrische Bemerkung nicht verkneifen können, dass für Janine eine Nacht in der Ausnüchterungszelle oder eine Konfrontation mit dem Jugendrichter eine durchaus heilsame Warnfunktion haben könnten. Doch noch bevor Sabine darauf reagieren konnte, die das Ganze insgeheim ganz ähnlich sah, hatte er hinzugefügt: »Aber es ist doch, wenn man alles andere mal ausblendet, meine Schwester. Ich kann meine eigene Schwester doch nicht wissentlich in die Falle laufen lassen.«
»
Könnten
Sie schon«, hatte die Kommissarin in den Innenspiegel gezwinkert, obwohl er dies in der Dunkelheit kaum hatte sehen können. »Aber zwischen Ihnen gibt es etwas viel Wichtigeres zu heilen, als sich bloß auf den zweifelhaften Marihuanakonsum zu fokussieren. Sie tun das Richtige, ich würde wohl genauso handeln.«
»Na, wenn
Sie
das sagen …«
Sabine hatte diese Reaktion, die seltsam unvollständig auf sie wirkte, unkommentiert stehenlassen. Sie erwartete weder Dank noch Begeisterung, nicht von der Person, die sie im Laufe dieser gemeinsamen Woche kennengelernt hatte. Wenn der Abend erfolgreich verlief, würde der
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