Giftspur
grobschlächtige Typ aus der Provinz schon eine andere Seite zeigen. Langfristig. Zumindest hoffte sie das.
»Wollen Sie wirklich mit reinkommen?«, erkundigte sie sich, als die beiden den Eingang erreichten. Die Briefkästen waren verklebt und mit Lack übersprüht, an der gekachelten Wand, aus der nicht wenige Steine herausgeschlagen waren, dominierte der Schriftzug ACAB , eine allgegenwärtige Wandschmiererei.
All cops are bastards.
»Klar komme ich mit.«
Suchend wanderte Sabines Blick über die Klingelschilder. Die meisten Felder waren x-mal überklebt und in krakeliger Schrift gehalten, doch wenigstens schienen sie halbwegs aktuell zu sein. Beide Namen fanden sich; eine Wohnung lag im ersten Stock, die andere im dritten.
»Ich meine ja nur. Für Janine dürfte es wohl wie das sprichwörtliche rote Tuch wirken, wenn Sie plötzlich im Türrahmen stehen«, erwiderte die Kommissarin. Unwillkürlich musste sie grinsen. Wenn Angersbach das rote Tuch war, wer war dann der gereizte Bulle? Janine? Manche Metaphern sollte man besser nicht überstrapazieren.
»Ich werde jedenfalls nicht Däumchen drehen«, brummte Angersbach. »Teilen wir uns auf, oder gehen wir zusammen?«
Sabine warf einen Blick auf die Uhr. Der Zugriff sollte gegen einundzwanzig Uhr starten, eine zeitlich aufeinander abgestimmte Razzia an einschlägigen öffentlichen Plätzen und Hausdurchsuchungen bekannter Dealer. Noch eine knappe Stunde Zeit.
»Gehen wir gemeinsam.«
Gleich vor der ersten Tür reagierte niemand auf ihr Klingeln, obwohl im Inneren gedämpfte Musik zu hören war. Es musste jemand zu Hause sein, Licht schimmerte unter dem Türspalt durch, doch vermutlich aalten sich die Bewohner um eine Wasserpfeife oder verschlangen im Heißhunger Tiefkühlpizza. Oder sie hielten eine Sexorgie, was ungefähr das Letzte war, was Sabine ihrem Kollegen wünschte. Janine, völlig entblößt, inmitten zotteliger Kerle. Diese Angst, so hatte Ralph ihr im Vertrauen bei ihrem Essen gesagt, trieb ihn tagtäglich um. Er sah darin seine eigene Mutter, oder zumindest das, was an bleichen Erinnerungen an sie übrig geblieben war. Keine Bilder, sondern Geschichten, die andere über sie erzählten. Üble Nachrede oder traurige Wahrheit, was spielte das für eine Rolle? Es war eine Sorge, die Sabine nur allzu gut nachvollziehen konnte. Kinder sollten sich nicht um die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Eltern kümmern müssen. Pflege im Alter, keine Frage. Liebevoller Umgang, kein Problem. Aber Selbstzerstörung, Exzesse und sittlicher Verfall? Diese Begriffe waren für sie, als Tochter und einzige Verwandte einer äußerst labilen, psychisch kranken Frau, leider keine Fremdworte.
Sabine formte eine Faust und schlug viermal kräftig aufs Türblatt. Ihre Hand schmerzte, doch sie wiederholte das Klopfen wenige Sekunden später.
Irgendwo zwischen den von innen her mürrisch ausgestoßenen Worten »das fuckt mich ab« und anderen Kraftausdrücken wurde die Tür nach innen gezogen, bis ein zehn Zentimeter breiter Spalt entstanden war. Ein unrasierter Blondschopf in grauem Kapuzenpullover und Armyhose blinzelte hinaus.
»Waaas?« Seine Stimme war heiser, und er zog den Vokal deutlich in die Länge, um seinen Unwillen zu demonstrieren.
»Ist Janine da?«, fragte Sabine.
»Weeer?«
»Janine. Die hier«, drängte sich Angersbach zwischen seine Kollegin und die Wand. Er wedelte mit einem Foto. Sabine hatte sich das Bild vor ihrem Aufbruch lange betrachtet, die Aufnahme war laut Zeitstempel ein Jahr alt, und weder Haarfarbe noch Frisur stimmten mit der heutigen Janine überein. Selbst das Metall in ihrem Gesicht hatte sich seitdem vermehrt. Der mürrische, gelangweilte Gesichtsausdruck hingegen war unverkennbar.
»Wer is’n das?«
»Schon gut«, wehrte Sabine ab. »Ist Falco Schmittner da?«
»Nee. Der kommt heut auch nicht mehr.«
Wortlos wandte Sabine sich ab und eilte die Treppe nach oben. Angersbach folgte ihr.
»Wir hätten die Wohnung durchsuchen können«, keuchte er.
»Ein Mal
Gefahr im Verzug
reicht am Tag«, gab Sabine zurück. »Wir dürfen uns nicht als Polizisten ausgeben und dem Rauschgiftdezernat dazwischenfunken. Die verstehen da keinen Spaß.«
»Schon gut. Aber wenn sie hier oben auch nicht ist …«
»Dann lassen wir uns was einfallen. Mein Freund steht Gewehr bei Fuß, das Handy zu orten.«
Innerhalb eines Mehrfamilienhauses, so wussten beide, war eine Ortung natürlich wenig sinnvoll, und daher wollte Sabine zuerst die beiden
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