Giftspur
Frankfurt hierher angestrengt hatte, war ihr Tag von völlig anderen Dingen bestimmt gewesen. Dem Aufschneiden eines Toten zum Beispiel, der vermutlich gar kein Mordopfer war. Dazu die womöglich gänzlich fruchtlosen Vernehmungen – im Falle eines natürlichen Todes reine Zeitverschwendung – und, was am allerschlimmsten war, die stichelnden Wortgefechte mit ihrem neuen Kollegen. Angersbach hielt sich wohl für besonders witzig, wenn er den Eigenbrötler mimte, vielleicht war er auch tatsächlich bislang nicht damit angeeckt. Aber Sabine kam mit seiner Art und Weise nicht zurecht, er war bei Vernehmungen fahrig oder schlichtweg unfreundlich und spielte seine Trümpfe, sämtliche Kollegen zu kennen, bei jeder Gelegenheit aus.
Tue ich ihm unrecht? Nein.
Er wickelte sie jedes Mal, wenn er sie vor den Kopf gestoßen hatte, wieder um den Finger und hatte sich mit dieser Masche durch den gesamten Tag gemogelt. Angreifbar gemacht hatte er sich nicht, wahrscheinlich würde er sie glatt an die Wand reden, wenn sie ihn damit konfrontierte. Verzweiflung ergriff Besitz von ihr, und sie sehnte sich in diesem Augenblick ihre Mutter herbei, die vermutlich längst eingeschlummert war, denn die Psychopharmaka machten sie unendlich schläfrig. Oder die starken Arme ihres Freundes Michael, der sich als IT -Experte im Frankfurter Präsidium verdingte. Doch Michael war mal wieder nicht da, wie so oft in letzter Zeit. Seit zweieinhalb Jahren waren die beiden nun ein Paar, und Sabine musste sich eingestehen, dass sie diesen gutaussehenden Mann abgöttisch liebte. Sie war ihm, ohne dies anfangs zu wollen, völlig verfallen, und wenn sie zusammen waren, fühlte sich das Leben so leicht und beschwingt an, dass alles andere nicht zählte. Doch sobald der Job, ihre Mutter oder sonst etwas sie auseinanderdividierte, kam sofort das schwarze Loch mit seiner bedrückenden Schwere und den finsteren Dämonen.
Bleibt er bei mir? Was, wenn er eine andere findet? Eine, die unkomplizierter ist. Eine Frau mit heilem Elternhaus für eine Schar dunkelblonder Kinder.
Sabine Kaufmann hatte es weder nötig, noch hatte sie es gewollt, sich jemals derart von einem Mann abhängig zu machen.
Doch gegen den Strudel ihrer Gefühle war sie machtlos. Michaels Handy war ausgeschaltet, im Flugzeugmodus oder in einem Funkloch, was auch immer. Gerade jetzt, wo sie seine warme, beruhigende und erotisierende Stimme so dringend gebraucht hätte. Sie war allein, niemand greifbar, bei dem sie ihrem Frust über die Gesamtsituation hätte Luft machen können.
Ein Job, bei dem dich jeder betrachtet, als seist du eine Zicke aus der Großstadt, die sich wichtigmacht.
Ein Kollege, der sich als Kotzbrocken aufspielt, kaum dass er einen Tag dazugehört.
Eine Mutter, bei der du dich nicht ausheulen kannst, weil du ihr dann eingestehen müsstest, dass du nur ihretwegen hierher gewechselt bist. Und die dich, selbst wenn es so weit käme, sowieso nicht verstehen würde.
Ein Freund, der vom ersten Tag an keinen Hehl daraus gemacht hat, dass er den Wechsel zwar unterstützt, aber nicht für richtig empfindet.
Und dann war da noch Heiko Schultz.
Ein Kollege, der bei einem völlig alltäglichen Zugriff durch einen siebzehnjährigen Messerstecher draufgehen musste.
Die Beerdigung war eine Katastrophe gewesen. Eine stoisch am Grab stehende, hochschwangere Frau, an der Hand ein teilnahmslos dreinblickendes Kleinkind von vielleicht drei Jahren. Schluchzende Angehörige, dazu weiße Schneeflocken, die sich auf den schwarzen Trauerkleidern niederschlugen. Blicke der Schuldzuweisung, nicht gegenüber Sabine, sondern an sämtliche Kollegen gerichtet, die äußerst zahlreich vertreten waren. Nicht das Messer war es, das Simone Schultz ihren Mann genommen hatte, es war dieser gottverdammte Job.
Halt!
Eine Stimme in Sabines Kopf begann zu rufen, immer lauter werdend, bis die Kommissarin ihr endlich Beachtung schenkte.
Selbstmitleid? Dafür bist du zu jung!,
insistierte das verborgene Ich. Zu jung, zu engagiert, zu stolz. Sabine wusste das alles und war dankbar, diese Stimme vernommen zu haben. Ihre Verzweiflung war nicht rational, der Tränenschleier auf ihren Netzhäuten gehörte dort nicht hin. Die Konturen des Wohnzimmers waren längst verschwommen, doch sie war plötzlich wild entschlossen, die Kontrolle zurückzuerlangen. Zumindest über die Bereiche, in denen sie etwas verändern konnte.
Hastig kippte sie den restlichen Wein hinunter und schmiedete einen Schlachtplan. Michael
Weitere Kostenlose Bücher