Giftspur
davon gewesen, welche Person die Leitung des Teams übernehmen sollte, denn genau genommen gab es ja kein echtes Team, sondern eben nur zwei Ermittler. Verstärkung kam aus Friedberg, und dort lag auch die Leitung, ganz oben stand Schulte, dazwischen, hier in Bad Vilbel, befand sich nur Möbs. Kaufmann hatte natürlich den Vorteil, schon acht Wochen länger vor Ort zu sein. Und das ließ sie ihn gerne spüren, so empfand Angersbach es zumindest, denn er kannte sich weder besonders gut in der Gegend aus, noch waren ihm die ganzen Uniformierten vertraut. Spaßeshalber hatte er versucht auszurechnen, wer unterm Strich die besseren Qualifikationen hatte. Doch diese Rechnung ging leider nicht zu seinen Gunsten auf, denn Sabine Kaufmann war zwar rund zehn Jahre jünger, hatte ihre letzte Beförderung aber früher erlangt als Angersbach. Sie verfügte über eine Menge Berufserfahrung in Deutschlands kriminellster Stadt, wenn man der Statistik Glauben schenken durfte. Selbst Mordfälle hatte sie beinahe gleich viele bearbeitet, und das, obwohl sie noch keine sieben Jahre bei der Mordkommission tätig war. Es war eine vertrackte Situation.
Wenn du nicht aufpasst, kommst du unter die Räder,
so viel war Angersbach längst klar. Selbst wenn
er
keinen Konkurrenzkampf führte, woher sollte er wissen, dass
sie
es nicht längst tat?
Am späten Nachmittag kehrte der Kommissar nach Okarben zurück. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, einen Umweg durch Karben zu fahren, um die Adresse des Heilpraktikers in Augenschein zu nehmen. Verrückte Welt, dachte Angersbach, der sich vorher am Computer eine Straßenkarte samt Routenplaner aufgerufen und außerdem versucht hatte, ein Foto des Hauses zu finden. Doch im Gegensatz zu Frankfurt und Gießen gab es hier noch kein flächendeckendes Street View, ebenso wenig in Okarben, wie er erleichtert festgestellt hatte. So nützlich manche Informationen im Internet auch waren, Angersbach proklamierte sich stets als
analogen Menschen,
der sich nur ungern in aller digitalen Breite gläsern machte. Groß-Karben und Klein-Karben waren zwei miteinander verschmolzene Gemeinden, die zusammen über zehntausend Einwohner aufwiesen. Okarben lag nordwestlich davon, war deutlich dörflicher geprägt, und obgleich die Strecken allesamt recht kurz waren, brauchte es an mancher Stelle eine gute Ortskenntnis oder ein Navigationsgerät, um sich nicht im endlosen Einbahnstraßengewirr zu verfahren.
Rahnenfeldts Haus lag in der Schillerstraße, ein unauffälliger Bungalow aus den siebziger Jahren mit kleinen Fenstern und schwarzer Holzverkleidung unter dem Dach, was ihn etwas düster wirken ließ. Weder ein auffälliges Hinweisschild noch ein nach Feng-Shui angelegter Garten ließen darauf schließen, dass sich im Inneren ein zutiefst spiritueller Mensch verdingte, und Angersbach entschied, seine Vorurteile ein wenig zurückzuschrauben. Gut möglich, dass Claudia Reitmeyers vorgefertigte Meinung übertrieben war und sich hinter der Tür ein weitgehend weltlicher Mann befand.
Morgen weißt du mehr.
Dröhnend und von hysterischen Schreien begleitet, schwappte die Welle der Familienrealität ihm bereits entgegen, als Ralph den Schlüssel ins Türschloss schob. Seufzend atmete er tief ein, und verharrte einige Sekunden, bevor er eintrat. Seine Nachbarn kannte er nicht. Die Menschen in der Straße waren allesamt Fremde, und stetig wuchs Angersbachs Verdacht, dass diese Distanz nicht zufällig war. Zugegeben, er war nicht der Typ, der mit Begrüßungspräsenten von Haus zu Haus ging, wie es einst in spießbürgerlichen Vierteln üblich gewesen war.
War es das überhaupt jemals?
Ralph hatte sich diese Frage schon öfter gestellt. Aber eine Prise nachbarschaftlichen Miteinanders, das über ein hastiges Nicken und Davoneilen hinausging, war jedenfalls keine völlig realitätsentfremdete Erwartung, oder? Doch diese Chance schien vor langer Zeit vertan worden zu sein, von einer Mutter, deren Lebenseinstellung er nur aus den kargen Erzählungen anderer kannte, und von diesem grauenvollen Teenager, über die man vermutlich im halben Dorf hinter vorgehaltener Hand sprach. Vermutlich betete man sogar sonntags für ihr Seelenheil.
Janine war von hagerer Gestalt, jedoch mit einem breiten Becken, das ihre dünnen Beine unnatürlich weit auseinanderstehend wirken ließ. Früher hätte man das als gebärfreudig bezeichnet, doch junge Frauen des einundzwanzigsten Jahrhunderts verwendeten schlicht die Bezeichnung fett. Dabei war an
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