Giftspur
Endlosschleife des immer selben Liedes, also musste der Mann zu Hause sein. Doch er schien sich zu verschanzen, vielleicht ignorierte er ihn sogar voller Absicht, ein Gedanke, der in dem Nachbarn die nackte Wut aufsteigen ließ. Unverrichteter Dinge zog er von dannen, kehrte Stunden später wieder zurück, und noch immer spielte dieselbe Musik.
Eberhardt Werner wurde misstrauisch. Nicht, dass er diesen selbstgefälligen Gutmenschen auch nur ansatzweise vermisst hätte. Malte Kötting, so viel wusste er, hatte keine sozialen Bindungen in der kleinen Ortschaft, er kam zum Essen und zum Schlafen, hatte gelegentlich Damenbesuch, aber nichts Dauerhaftes. Würde ihn überhaupt jemand vermissen? Seine utopischen Weltanschauungen mit Sicherheit nicht. Ungeachtet dessen rief Werner nach einer unruhigen Nacht die Polizei.
Hedwig Kaufmann, Sabines Mutter, klingelte ihre Tochter um sechs Uhr aus den Federn. Ob sie heute Zeit habe, mit in die Taunustherme zu fahren, wollte sie wissen. Schlaftrunken und dadurch weit mürrischer, als sie es wollte, krächzte Sabine ein »Hallo? Ich habe einen Job!« in ihr Handy und hätte das Gerät anschließend am liebsten in die entfernteste Ecke des Raumes geworfen. Wer zum Geier kam auf die Idee, mitten in der Woche am Vormittag ins Schwimmbad zu gehen? Zugegeben, Frau Kaufmann senior war eine besondere Persönlichkeit, das durfte man nicht außer Acht lassen. Unmittelbar vor, während oder nach einem psychotischen Schub bedeuteten gesellschaftliche Konventionen nichts für sie, dann bestimmten andere Dinge ihre Realität. Die Medikamente verhinderten, dass Hedi Kaufmanns schizophrene Phasen zu Totalausfällen wurden, aber eine regelmäßige Kontrolle, dass sie die Pillen auch nahm, war unerlässlich. Als einzige Verwandte hatte Sabine diese Verantwortung angenommen, und natürlich begannen ihre Gedanken, nun unaufhaltsam jene beklemmenden Spiralen zu drehen.
Geht es wieder los?
Wie schlimm wird es diesmal?
Sie griff erneut zum Handy, wählte per Kurzwahl die Nummer ihrer Mutter und hoffte, dass diese den Anruf nicht ablehnen würde. Verweigerung sozialer Kontakte war eines der verräterischen Frühwarnsymptome.
»Ja?« Erleichtert, dass die Stimme ihrer Mutter weder verärgert noch benebelt klang, stieß Sabine den vor Spannung zurückgehaltenen Atem aus und sagte dann: »Sorry, Mama, du hast mich aus dem Schlaf gerissen.«
»Habe ich mir schon gedacht. Aber du hast dich gestern Abend nicht mehr gemeldet, das hat mir zu schaffen gemacht.«
Irrationale Ängste. Alarmstufe gelb.
»Ich hab’s total verschwitzt, das ist alles«, gestand Sabine ein, »und als ich dann auf die Uhr gesehen habe, war es nach neun. Weißt du noch? Du hast mir als Kind eingebimst, dass man nach neun nirgendwo mehr anrufen soll.«
Aus dem Hörer erklang ein unbeschwertes Lachen, Sabine erwiderte es und entspannte sich etwas. Ihre Mutter klang weder verunsichert noch depressiv. Vielleicht war es tatsächlich nur eine Impulshandlung gewesen.
»Sechs Uhr früh ist im Grunde auch nicht besser, wie?«, vergewisserte Hedi sich schuldbewusst. »Aber du stehst doch seit Jahren um diese Zeit auf.«
»Das war in Frankfurt. Hier kann ich mir locker eine halbe Stunde mehr Zeit lassen. Aber bevor wir lange reden, soll ich zum Frühstück rüberkommen? Dann war es zumindest keine verschenkte Zeit.«
Außerdem wäre ein Blick in das Tablettendosett bei dieser Gelegenheit kein Fehler, und nachher konnte sie Hedi an der Tagesklinik absetzen.
»In Ordnung, ich koche Kaffee.«
Reiner Rahnenfeldt entsprach in keinerlei Weise dem Bild eines kauzigen Eremiten mit zotteligem Bart, welches sich auf der Grundlage von Claudia Reitmeyers abwertenden Äußerungen in Angersbachs Kopf entwickelt hatte. Im Gegenteil. Er wurde empfangen in einem angenehm unaufdringlichen Ambiente, mehr dem Vorraum einer Tierarztpraxis als dem Zelt eines Medizinmanns ähnelnd. Ihm gegenüber stand ein sympathischer Mann, einige Jahre älter als der Kommissar, mit schwarzgrauem Dreitagebart und ordentlich gekämmtem Scheitel. Er trug einen weißen Kittel, seine Handgelenke zierten silbrig glänzende Metallreife, um den Hals hing ein Lederriemen, an dessen verborgenem Ende wohl ein Anhänger baumelte. Unter dem Kittel verwehrte ein bis zum vorletzten Knopf geschlossenes Leinenhemd den Blick auf Rahnenfeldts Brust.
Auf die Vorstellung Angersbachs reagierte er mit bestürzter Überraschung.
»Kriminalpolizei? Ach herrje, Sie kommen bestimmt wegen
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