Giftspur
keinerlei Schuld trifft. Naturheilkunde kann keine Wunder vollbringen. Dafür sind andere zuständig.«
Er legte für eine Sekunde den Kopf nach hinten und drehte seinen Blick in Richtung Decke. Dann lächelte er und schloss mit den Worten: »Wut und Trauer sind völlig normale Reaktionen. Warum hätte ich den Hinterbliebenen also die Polizei auf den Hals hetzen sollen? Das wäre doch absurd.«
»Wut und Trauer können sich schnell in Gewalt manifestieren«, argumentierte Ralph dagegen.
»Die Drohungen haben aber aufgehört«, gab der Heilpraktiker ungeduldig zurück. »Noch etwas?«
Ralph hatte den Eindruck, dass Rahnenfeldt das Gespräch unangenehm wurde, und beschloss, das Ganze vorerst ruhen zu lassen. Beim Hinausgehen fiel sein Blick auf die zur Hälfte geöffnete Schiebetür der begehbaren Garderobe. Nicht nur, dass er selbst gern einen solchen Raum gehabt hätte, lieber jedenfalls als eine Speisekammer, in der gähnende Leere herrschte, während seine zahllosen Kleidungsstücke überall herumflogen. Ein schwarz glänzender Motorradhelm und eine Lederhose mit ausgebeulten Knien, in denen sich zweifelsohne Protektoren verbargen, irritierten Ralph für einen Augenblick. Sie passten irgendwie nicht zu dem Bild jenes friedliebenden Vorstadt-Heilers, das Reiner Rahnenfeldt soeben gezeichnet hatte.
Malte Köttings Wohnung befand sich hinter der mittleren, im Obergeschoss liegenden Haustür eines Sechsfamilienhauses. Fertigbauweise, in Randlage des beschaulichen Ortes Petterweil. Zwei Kollegen der Schutzpolizei sicherten den Eingang gegen Unbefugte, doch von den Nachbarn lugte höchstens ab und an jemand neugierig hinter dem Vorhang hervor. Angersbach hatte die Adresse nur wenige Minuten vor Sabine Kaufmann erreicht und beschlossen, diesmal auf sie zu warten. Einem Toten, der seit dem Wochenende dort oben lag, kam es gewiss nicht auf ein paar Minuten an.
Sie begrüßten einander, und Angersbach brachte seine Kollegin mit knappen Sätzen auf den neuesten Stand in Sachen Rahnenfeldt. Dann überquerten sie den hell gepflasterten Vorplatz und stiegen eine Marmortreppe nach oben.
»Selbes Spiel in Grün«, murmelte einer der Beamten, doch Angersbach war sich nicht ganz sicher, worauf er anspielte. Der süßlich beißende Geruch, der ihm entgegenströmte, als er das Wohnzimmer Malte Köttings betrat, trieb ihm die Tränen in die Augen. Fäulnis gepaart mit abgestandener Raumluft, es roch widerlich, und das, obschon man Haustür und Küchenfenster geflissentlich auf Durchzug gestellt hatte.
»Was soll hieran dasselbe sein?«, brummte er hinter vorgehaltener Hand.
»Mag sein, dass der Kollege mich meint«, erwiderte seine Kollegin. »Wir hatten unlängst schon mal eine halb verweste Tote, da roch es ähnlich. Aber können wir das draußen besprechen?«
»Klar«, nickte Angersbach und rang sich ein Lächeln ab.
Auf einer dreisitzigen Wildledercouch saß der vierzigjährige Malte Kötting, den Kopf im Nacken, leichenblass und mit aufstehendem Mund. Seine Augen schienen einen unsichtbaren Punkt an der Decke zu fixieren, die außer einer staubigen Halogenleuchte und einigen Spinnweben jedoch nichts Sehenswertes vorzuweisen hatte. Kötting war ein irischer Typ, helle, fleckige Haut, Sommersprossen und rote Haare, die vom Kopf hinab über Schultern und Oberarme in Richtung Rücken wucherten. Außerdem lugten sie oberhalb der Brust aus dem weißen Unterhemd hervor. Unter der Hüfte, die nur einen leichten Bauchansatz aufwies, trug Kötting eine schwarze Trainingshose und an den Füßen Wollstrümpfe. Ein nicht angerührter Salatteller stand vor ihm auf dem Tisch, die welken Blätter waren zusammengesunken, und Mais, Pilze und Paprika waren von glanzloser Trockenheit. Im Hintergrund verriet das in einer Endlosschleife spielende DVD -Menü auf dem klobigen Röhrenfernseher, dass Kötting sich einen alten Clint-Eastwood-Film eingelegt hatte. Die Musik hatte man stumm geschaltet, wie einer der Spurensicherer mitteilte.
»Achtundvierzig Stunden. Mindestens«, lautete die Diagnose des Arztes, der die Leichenschau vornahm, und im Folgenden ergoss sich ein teilnahmsloser Monolog aus Fachbegriffen über Ralph und Sabine. Das Procedere glich dem von Sonntag bis auf wenige Unterschiede. Todesursache nicht gesichert, keine äußeren Anzeichen eines Fremdverschuldens. Medizinischer Befund unklar, da keine Patientengeschichte bekannt.
»Okay, dann verfahren wir in puncto Spurensicherung und Rechtsmedizin ebenso wie im Fall
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