Giftspur
Niederschlags, der sich wie in einer Schneekugel allmählich beruhigte und wie in Zeitlupe niederrieselte.
Auf einem rot gekachelten Tisch erkannte Ralph einen langen Glaszylinder, dessen Form an eine überdimensionale Spritze erinnerte und in dessen Innerem sich ein Glasrohr spiralförmig wand. Er hatte diesen Aufbau schon einmal gesehen, irgendwo im Vogelsberg, versteckt in einem ausgedienten Milchkühler-Raum. Unerlässlich für den Betrieb einer illegalen Schnaps-Destille, doch er kam beim besten Willen nicht auf den Namen des Ortes oder den Namen des Glaskolbens.
»Ein Reflux-Kondensator«, verkündete Elsass stolz. »Sie kennen sich aus?«
»Nicht wirklich.« Angersbach musste grinsen, denn die Bezeichnung, auf die er nicht von allein gekommen wäre, erinnerte ihn an einen anderen Begriff. Flügeltüren und Flux-Kompensator, die Filmreihe
Zurück in die Zukunft
– damit musste er seine Kollegin mit ihrem kleinen E-Mobil unbedingt aufziehen. Doch vorläufig galt es, Victor Elsass auf den Zahn zu fühlen. Dieser schien sich damit abgefunden zu haben, dass Angersbach Meter für Meter durch das Labor schritt und alles neugierig beäugte.
»Interessieren Sie sich für Themen wie globale Ernährung und dergleichen?«
»Hmm. Ich bin Vegetarier«, antwortete Ralph beiläufig. »Aber das hat hauptsächlich gesundheitliche Gründe.«
»Macht nichts«, kommentierte Elsass augenzwinkernd, »Ethik und Ökologie sind etwas für Träumer. Aber im Ernst. Wer, glauben Sie, verrichtet in der Landwirtschaft die wichtigste Arbeit?«
»Die Bauern?« Ganz offensichtlich war dies nicht die Antwort, auf die der Wissenschaftler abzielte, aber Angersbach sagte es trotzdem.
»Humbug.«
»Ich warne Sie, ich bin auf dem Land groß geworden«, mahnte der Kommissar. »Die Landwirte, die ich kenne …«
»… sind auf Gedeih und Verderb abhängig von der Industrie«, unterbrach Elsass ihn und winkte verächtlich ab. »Wissen Sie, wie viele Betriebe in Deutschland nach ökologischen Richtlinien arbeiten?«
»Sie werden’s mir sicher verraten.«
»Doppelt so viele wie vor zehn Jahren«, fuhr Elsass fort, »aber noch nicht einmal zehn Prozent. Ein Armutszeugnis! Dabei ist mittlerweile hinlänglich belegt, dass der Einsatz von Spritz- und Düngemitteln blanker Widersinn ist.«
»Erzählen Sie das mal einem Landwirt, der vom Ertrag seiner Ernte abhängig ist«, brummte Angersbach. Das Gespräch missfiel ihm, zumal er nicht des Nachts hierhergekommen war, um über biologisch-dynamischen Ackerbau zu reden.
»Ein Landwirt, der biologisch-dynamisch wirtschaftet, hat am Ende der Saison genau denselben Ertrag«, widersprach Elsass energisch, »und das spätestens ab dem dritten Jahr. Doch anstatt, dass jeder das Offensichtliche erkennt, nämlich, dass die Anfälligkeit von Pflanzen gegen Schädlinge und Krankheiten erst durch chemische Überbehandlung herbeigeführt wurde, geht es munter weiter. Dabei liegt die Lösung auf der Hand.«
»Und die wäre?«
»Rückbesinnung auf früher.«
»Was denn? Etwa Ackergäule und karge Ähren?« Angersbach schüttelte lächelnd den Kopf.
»Unsinn«, wehrte Elsass ab. »Die Kombination alter, robuster Sorten mit ertragreichen neuen Züchtungen. Das ist die Zukunft, und darin besteht die eigentliche Arbeit. Über den Tellerrand schauen und etwas riskieren, anstatt über Ethik zu jammern.«
So langsam verstand Angersbach, worauf Elsass hinauswollte.
»Sie sprechen von Genmanipulation.«
»In der Tat«, nickte dieser. »Ist das ein Problem?«
»Meine Meinung ist da wohl nicht entscheidend.«
»Das ist ja das Schlimme«, seufzte Elsass. »Sobald der Begriff
Genmanipulation
fällt – und wenn Sie mich fragen, ist das eine sehr engstirnige Bezeichnung –, legt jeder seine Scheuklappen an.«
»Ich hatte Sie vorhin so verstanden, dass es diesbezüglich einen eindeutigen Kodex gab«, erinnerte sich der Kommissar.
»Ulf betrachtete das Thema schwarz-weiß«, erklärte Elsass, »was jedoch ein fataler Fehler ist. Die Grenzen sind längst nicht mehr geradlinig.«
»Klingt für mich wie eine Rechtfertigung.«
»Die Gründe liegen doch auf der Hand!«, rief Elsass, und seine Laborantin fuhr erschrocken zusammen. »Fast drei Viertel unserer hochzivilisierten Bevölkerung haben mittlerweile Rückstände des Pflanzenschutzmittels Glyphosat im Urin. Fehlgeburten, Krebs, Infekte – aber
da
schert sich keiner drum. Man kann offiziell ja nichts beweisen. Stattdessen schürt man weiterhin die Angst,
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