Giftspur
dadurch klinisch, leblos und kalt. Betont umständlich schälte Angersbach sich aus dem Fahrzeug, was Sabine geflissentlich zu ignorieren wusste. Sie ging zielstrebig auf die Haustüre zu und suchte den Namen Wedmann auf dem Klingelschild. Sie zählte die Sekunden, einundzwanzig, zweiundzwanzig … Endlich kam auch ihr Kollege angeschlurft, und dann ertönte ein warmer Alt durch die Gegensprechanlage: »Jaaa?«
»Kaufmann und Angersbach, Kriminalpolizei«, antwortete Sabine, in Richtung der mattsilbernen Metallplatte gebeugt, hinter deren Bohrungen sich Lautsprecher und Mikrofon befanden. Prompt schnarrte der Öffnungsmechanismus, und Sabine stemmte sich gegen die Tür, die nach innen aufschwang. Wenige Meter gegenüber wurde eine Wohnungstür geöffnet, und im Halbdunkel des Flurs stand eine stattliche Person, dunkel gelocktes Haar, schätzungsweise Anfang fünfzig. Sie trug eine Jeans, deren Beine einige Zentimeter zu lang geschnitten waren, darunter lugten Haussandalen hervor. Eine Bluse mit einer dicken Bernsteinkette zierte die nicht unattraktive Frau.
Keine überdimensionale Sonnenbrille, die wie Insektenaugen wirkte. Keine Behinderte, die sich wie ein Mauerblümchen im Verborgenen hielt, um bloß niemandem zur Last zu fallen. Sabine schämte sich zutiefst für die Nachlässigkeit ihrer Kollegen und trat schwungvoll auf Frau Wedmann zu.
»Kaufmann, Kriminalpolizei«, stellte sie sich vor. Angersbach nannte ebenfalls seinen Namen und ließ den Blick aufmerksam umherwandern. Aus der Wohnung drang Licht, sie war durchaus geschmackvoll eingerichtet, nicht mit üppigem Tinnef überladen. Besser als jene unpersönliche Alkoven in Wohnheimen, aber doch keine typische Wohnung normaler,
nein, sehender
Menschen.
»Sie klingen sympathisch«, lächelte Heike Wedmann und trat einladend zur Seite. Nacheinander betraten sie die Wohnung. Im Vorbeigehen musterte die Kommissarin die Einrichtung.
»Leben Sie hier allein?«
»Ja. Mein Mann ist früh gestorben. Aber ich habe gute Freunde, auf die ich mich verlassen kann«, erklärte die Frau. Dann seufzte sie. »Doch das werden immer weniger.«
Sie nahmen am Esstisch Platz, der inmitten des Wohnzimmers stand. Oval, vier Stühle. In einer Ecke des Raumes summte der Lüfter eines großen Computers, dessen Bildschirm hell flimmerte. Ein großes, graues Gerät war daneben aufgebaut, Sabine vermutete, dass es sich um einen Faxdrucker handelte. Sogar einen Fernseher gab es, doch sie entschied sich, nichts dazu zu sagen. Das Gerät befand sich neben einer mattsilbernen Stereoanlage. inmitten eines sechs Meter breiten Regals, welches neben zahlreichen CD s vor allem Bücher enthielt.
»Darf ich Sie etwas fragen, bevor wir mit der eigentlichen Vernehmung beginnen?« Sabine achtete auf unverfängliche Formulierungen, was ihr schwerfiel.
»Das war schon eine Frage«, kam es zurück. »Soll ich einen Tee kochen? Oder Kaffee?«
»Keine Umstände, bitte«, murmelte Angersbach.
»Wieso Umstände? Ich benötige keinen Pflegedienst, um ein Heißgetränk zuzubereiten.« Die Reaktion war unerwartet spitz, und Sabine verkniff sich ein Grinsen. Angersbach verschränkte die Arme und sagte: »Für mich bitte nichts.«
Heike Wedmann lief in Richtung Küche und kehrte kurz darauf mit einer Thermoskanne und zwei Tassen zurück, die sie auf die Tischplatte bugsierte. Ihre Bewegungen wirkten routiniert, sie stieß nirgendwo an, und auf ihrer Kleidung oder der Tischplatte befanden sich keine Flecken. Geschickt schenkte sie ein, dabei hielt sie den Ringfinger über den Tassenrand gebeugt, um rechtzeitig zu spüren, wann die Tasse sich füllte. Drei Zentimeter unterhalb des Randes stoppte sie.
»Wie viel Prozent Sehkraft haben Sie?«
»Das war Ihre Frage?«, lächelte die Blinde. »Null, nada.«
»Aber Sie haben einmal gesehen.«
»Nein. Blind geboren und nichts dazugelernt. Ich habe das Licht der Welt sozusagen nie erblickt.«
»Hm. Imponierend«, erwiderte die Kommissarin, und selbst Ralph Angersbach wirkte beeindruckt. »Bitte entschuldigen Sie meine Direktheit.«
»Es gibt zwei Fehler, die Menschen im Umgang mit mir machen. Erstens: permanentes Entschuldigen. Lassen Sie das. Ich bin weder eine Invalide noch auf Mitleid angewiesen. Ich habe meinen Mann zu Hause gepflegt, bis sein Körper nicht mehr wollte. Das Schwierigste dabei war nicht die Arbeit mit ihm, sondern der andauernde Ärger mit der Krankenkasse. ›Wie kann eine Blinde einen Gelähmten pflegen?‹
Das
war das wirklich
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