Giftspur
eine weiße Weste hat.«
»Könnte doch sein«, antwortete Angersbach ohne langes Zögern, und Sabine bedachte ihn mit einem fragenden Blick.
»Wieso? Sie spielt die Unwissende und hatte nun mehr als genug Zeit, sämtliche Spuren zu beseitigen. Sie hat sogar zwei Tote, denen sie alles in die Schuhe schieben kann, und jetzt sogar noch eine Mordverdächtige. Besser könnte es für sie kaum laufen.«
»Dann erklärt das immer noch nicht, weshalb die beiden Männer klammheimlich mit Gift beseitigt werden sollten. Passender für mich wäre der Gedanke, dass Reitmeyer und Kötting aneinandergeraten sind, aber sie haben sich wohl kaum mit vergifteten Milchflaschen duelliert.«
Sabine konnte sich ob des absurden Bildes, das vor ihrem geistigen Auge entstand, ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ihre Phantasie in allen Ehren, aber was ist mit dem Knecht? Würde er profitieren, wenn der Betrieb kaputtginge und er wieder der alleinige Herr über den Hof seiner Vorfahren sein könnte?«
»Na ja, das Gleiche gilt für Becker. Der Tannenhof ohne Reitmeyers …«
»Ich geb’s ja zu, beide Theorien schwächeln«, schnitt Sabine ihrem Kollegen das Wort ab. »Weder Becker noch Volz haben ein erkennbares Motiv für beide Morde. Ich bin sehr gespannt, was uns dieser Moreno dazu zu sagen hat … und wem nachher die Finke den Schwarzen Peter zuschieben möchte. Sie ist mir nicht der Typ, der sich einschüchtern lässt und klein beigibt.«
»Das sehe ich genauso«, erwiderte Angersbach, »und es gibt noch eine weitere Sache, die auf Vera Finke hindeutet.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Unabhängig davon, wo Kötting sein Gift herhatte, muss es jemand gezielt in Reitmeyers Speisekammer plaziert haben. Oder im Büro, im Kühlschrank, wo auch immer. Diese Person muss Zugang zum Haupthaus gehabt und seine Essgewohnheiten gekannt haben.«
»Da Vera Reitmeyers Geliebte war, dürfte das im Rahmen des Wahrscheinlichen liegen«, nickte Sabine, rieb sich das Kinn und ließ das Tablet zwischen ihre Beine sinken. Doch Angersbach war noch nicht fertig.
»Sie hätte es sich aber auch weitaus einfacher machen können, und zwar nicht nur bei ihrem Lover, sondern auch bei Kötting. Wer kannte das Essverhalten der beiden Männer besser als jeder andere? Die Lebensmittelverkäuferin ihres Vertrauens. Selbst von Kötting wusste sie, welche Produkte er kauft und welche er links liegenlässt. Wäre es nicht ein Leichtes, den beiden einen tödlichen Giftcocktail zu verabreichen, ohne den Laden auch nur für einen Schritt verlassen zu müssen?«
»Respekt«, lächelte die Kommissarin. Ralph Angersbach hatte soeben ein entscheidendes Argument vorgebracht, gegen das Vera Finke sich nur mit großer Mühe wehren können würde. Doch sie musste sich noch ein Weilchen gedulden.
Hinter der Haustür Stefan Morenos surrte der Staubsauger. Erst beim dritten Druck auf die Türklingel verstummte der hochfrequente Klang, und es rumpelte. Eine tiefe Stimme ertönte und bat mit durch die Tür gedämpftem Klang um »einen Moment«, es rumpelte erneut, und dann endlich näherten sich eilige Schritte.
»Ja?«
Stefan Morenos Teint und Statur ließen keine Zweifel über seine südeuropäische Herkunft und athletische Form. Er war eins siebzig, drahtig, aber mit breiten Schultern und muskulösen Oberarmen, die aus einem engen, ärmellosen Rip-Shirt quollen. Das strahlende Weiß schuf einen deutlichen Kontrast zu der gebräunten Haut, an den Unterarmen prangten verschnörkelte Tattoos. Während Sabine Kaufmann ihrem Gegenüber die üblichen Informationen zuteilwerden ließ, musterte Ralph Moreno von Kopf bis Fuß. Eine teure, schwarze Adidas-Trainingshose, Badelatschen, weiße Tennissocken und am Hals eine goldene Kette. Der schmale Bart getrimmt, die Haare akkurat drei Millimeter lang. Auf Brust und an den Oberarmen wucherte nichts, entweder verschonte ihn übermäßiger Haarwuchs an diesen Stellen, oder, was Ralph vermutete, er epilierte sich.
Sowohl der Zugangsweg zu dem kleinen Zweifamilienhaus, in dessen Erdgeschoss Moreno lebte, als auch das durch die geöffnete Haustür vom Flur zu erkennende Wohnungsinnere verhießen eine penibel gepflegte Atmosphäre.
Schönling mit Putzzwang?
Möglicherweise tat er ihm unrecht, aber Ralph war sich sicher, den Typ Mensch, der vor ihm stand, wiederzuerkennen.
Der Name »Richter« schoss ihm in den Sinn, und vor seinem inneren Auge formte sich das Bild jenes bärbeißigen Mannes, den er unzählige Male beobachtet hatte.
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