Giftspur
»Spießer.« So hatten seine Pflegeeltern, die mit Hans und Edith Richter kaum weniger gemein hätten haben können, ihre Nachbarn gelegentlich bezeichnet. Doch mit diesem unschmeichelhaften Begriff allein wurde man ihnen nicht gerecht, wie der Kommissar, rückblickend betrachtet, fand. Pedanten waren sie gewesen, und das war noch milde ausgedrückt. Nicht so attraktiv wie Moreno und auch einige Jahre älter, aber alles andere passte. Zwei große, kurzhaarige Hunde, zwei stets blitzsaubere und frisch gewachste Autos in der Garage, im Garten einen gemauerten Pool, zwischen dessen Waschbetonumrandung kein Fitzelchen Unkraut hervorlugte. Akkurat gekehrte Rinnsteine, säuberlich gestutzte Hecken. In ihm kamen Bilder hoch, wie er sie jahrelang in sich aufgesogen hatte. Es war ein völlig gegensätzliches Bild zum Haus und Grundstück seiner Pflegefamilie, welches nicht in eine biedere Kleinstadtidylle zu passen schien. Eine alte, schiefe Schaukel, ein halbes Dutzend streunender Katzen und stets ein zur Hälfte zerlegtes Auto unter dem verwilderten Carport. Richters musste dieser Anblick wahre Höllenqualen bereitet haben, denn bei ihnen wirkte selbst der Gang zum Briefkasten wie eine einstudierte Choreographie. Jeder Handgriff schien ein Ritual zu sein, präzise ausgefeilt und rigoros konsequent in seiner Abfolge. Haustür auf, Latschen gegen Stiefel tauschen, Gassigehen mit den Hunden. Für die Rückkehr stand bereits eine Wanne bereit, in der das verdreckte Fell der lebhaften Rüden gebadet wurde, danach folgte das Abtrocknen und Kämmen. Hinterher reinigte er die Stiefel, während sie die Waschmaschine füllte. Das gesamte Leben des kinderlosen Paares schien sich nur um Ordnung und Disziplin zu drehen, und man sah sie nicht ein einziges Mal einfach nur entspannt im Garten ruhen. Der Staubsauger, der Auslöser sämtlicher Erinnerungen, war damals mindestens zweimal am Tag gelaufen. Ein Blick an Morenos Schulter vorbei, wo in einiger Entfernung der Staubsauger verharrte, hatte dem Kommissar genügt, um gewisse Muster wiederzuerkennen.
Ob er mit dem Rest richtiglag, würde sich zeigen.
Sie wechselten ins lichtdurchflutete Wohnzimmer, dessen akribische Sauberkeit der eines Reinraums glich.
Stefan Moreno erwies sich als recht zäher Gesprächspartner, der nur wenig von sich preisgab. Auf Angersbachs knappe Fragen antwortete er wortkarg, teilweise sogar mürrisch, und signalisierte den beiden Ermittlern damit, dass er ihre Anwesenheit nur wenig schätzte. Das änderte sich, als Sabine ihrem Kollegen einen vielsagenden Blick zuwarf und die Gesprächsführung übernahm.
»Herr Moreno, Sie behaupten also, dass die Kündigung Sie weder überrascht noch entrüstet hat.«
Schulterzucken. »Personalabbau ist doch nichts Ungewöhnliches.« Er neigte den Kopf zur Seite, nur wenige Millimeter, doch die Bewegung entging dem scharfen Blick der Kommissarin nicht.
»Ich frage deshalb, weil uns bisher fast ausnahmslos wütende Kommentare gegen Reitmeyer zu Ohren gekommen sind. Ihre Gleichgültigkeit verwundert mich ein wenig.«
»Ja, pff, einen Job kriege ich auch anderswo«, wand Moreno sich nun, ganz offensichtlich unangenehm berührt.
»Ihr Lebensstil scheint sich von dem eines einfachen Angestellten abzuheben«, quälte die Kommissarin ihn weiter und deutete um sich. Die Wohnung war nicht exquisit, aber durchaus mit einem Sinn für Ästhetik und Stil eingerichtet.
Bevor sie weitersprechen konnte, murmelte Moreno zerknirscht: »Ich habe eine Abfindung erhalten.«
»Ach? Reitmeyer zahlte Abfindungen? Das ist mir neu.«
»Nicht Abfindungen im Plural. Ich rede lediglich von mir«, korrigierte Moreno mit gedämpfter Stimme, als fühle er sich belauscht, und machte dazu eine verschwörerische Miene.
»Wofür denn? Schweigegeld?«
Ein Schuss ins Blaue, einem unbestimmten Instinkt folgend, der Sabine wie das sprichwörtliche Männchen im Ohr zurief, diese Frage zu stellen. Moreno schien zur Salzsäule zu erstarren, wenn auch nur für zwei Sekunden, aber seine Körpersprache war eindeutig.
Treffer.
»Wie …, ich …«, stammelte er, doch Sabine hatte nicht vor, ihm eine Gelegenheit zu bieten, sich zu sammeln.
»Bio-Schwindel, gepanschte Milch – wir wissen Bescheid«, erwiderte sie frostig und setzte mit drohendem Unterton nach: »Ich schlage vor, Sie tun sich selbst einen Gefallen und sagen uns jetzt die Wahrheit. Ausnahmslos.«
»Verdammt«, zischte Moreno und schnellte nach oben. Er lief kreuz und quer durchs Zimmer,
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